Rom Am Rande der Kapazitäten

Rom · Noch immer ist Italien erste Anlaufstelle für viele Flüchtlinge im Mittelmeer. Zu viele, finden Politiker und Bürger Italiens. Doch das angedrohte Hafenverbot für Rettungsboote spielt auch Schleppern in die Hände.

Das Maß ist schon seit Tagen voll. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte Italien kurz nach seinem Amtsantritt Hilfe bei der Bewältigung der Aufnahme Zehntausender Flüchtlinge zugesagt. Die französische Polizei hingegen jagte am Dienstag 200 Migranten nach Italien zurück, die zuvor in Ventimiglia über die Grenze nach Frankreich gewandert waren. Was gilt nun? So fragte man sich im Innenministerium in Rom. Echte Solidarität oder Rücksicht nur auf eigene Interessen? Italien beschloss, sich zur Wehr zu setzen.

So wird in Rom der jüngste Vorstoß der italienischen Regierung in Brüssel erklärt. Am Mittwoch informierte der italienische EU-Botschafter EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos über eine folgenreichen Entscheidung. Wenn die EU-Staaten bei der Umverteilung und Aufnahme über das Mittelmeer gekommener Bootsflüchtlinge nach Italien fortan keine echte Zusammenarbeit zeigten, werde man einige der Hilfsschiffe, die täglich vor der Küste Libyens Hunderte Flüchtlinge aus Schlauchbooten einsammeln, nicht mehr in italienische Häfen einlaufen lassen. Die Folgen wären dramatisch.

Italien ist die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge in der EU. Knapp 74.000 Migranten haben seit 1. Januar die italienischen Küsten erreicht, im Vergleich zum Vorjahr, als insgesamt 181.000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien kamen, verzeichnet das Innenministerium in Rom einen Anstieg um knapp 15 Prozent. Alleine in den vergangenen Tagen spuckten die Rettungsschiffe mehr als 10.000 Menschen innerhalb von 48 Stunden in den Häfen Süditaliens aus. Zu viele aus italienischer Sicht.

Italien ist an den Rand seiner Kapazitäten gelangt, vor allem angesichts der Tatsache, dass viele andere EU-Länder sich weiterhin gegen eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge wehren. Vor allem zwei Probleme stellen sich Innenminister Marco Minniti. Erstens weigern sich immer mehr Gemeinden in Italien, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Bürgermeister verweisen auf die zunehmende Intoleranz der Bürger im Hinblick auf Flüchtlinge. Insgesamt stellen Italiens Gemeinden 200.000 Aufnahmeplätze bereit, die inzwischen belegt sind. Zweitens stellt die Zunahme der Flüchtlingszahlen in Italien ein politisches Problem dar. Rechtspopulistische Parteien wie die Lega Nord, aber auch die postideologische Fünf-Sterne-Bewegung schüren den Unmut der Bevölkerung gegen Migranten im Land.

Dass Italien seine Forderung nach einer gerechten Verteilung von Flüchtlingen in der EU deshalb mit einer drastischen Drohung unterstreicht, hat seine Gründe. Bekanntlich wehren sich insbesondere osteuropäische Staaten unter Führung von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán gegen die Umverteilung. Italien, das als Mittelmeer-Staat und mit seiner geografischen Nähe zu Afrika besonders exponiert ist, hat das Nachsehen. Innenminister Marco Minniti hofft nun auf Fortschritte beim Treffen der EU-Justiz- und Innenminister kommende Woche in Tallinn. Dass EU-Innenkommissar Avramopuolos bereits "erhebliche finanzielle Unterstützung" für Italien zugesagt hat, wird in Rom schon als Teilerfolg gewertet.

Doch es ist der italienischen Regierung offenbar ernst. Wie es heißt, werde die Umsetzung einer Direktive zur Blockade der Schiffe von Hilfsorganisationen bereits vorbereitet. Im Detail geht es in den Plänen um Schiffe von Hilfsorganisationen, die nicht unter italienischer Flagge fahren. Ein gutes Dutzend dieser Schiffe ist im Meer vor Libyen unterwegs, ortet Flüchtlinge und reagiert auf die Anweisungen der italienischen Küstenwache.

Den Plänen zufolge soll die Küstenwache die nicht unter italienischer Flagge fahrenden und mit Flüchtlingen voll besetzten Boote der Hilfsorganisationen in die jeweiligen Heimathäfen zurückeskortieren. Rechtlich wird das damit begründet, dass die Rettung nicht etwa in italienischen, sondern in internationalen Gewässern vor Libyen erfolgt sei. Die italienische Küstenwache reagiere in Abwesenheit der zuständigen Behörden in Libyen oder Tunesien zwar auf die Seenotrufe, Italien sei aber nicht in jedem Fall für die Aufnahme der Schiffe in den eigenen Häfen zuständig.

Wie das in der Praxis aussehen soll, ist unklar. Einige der Hilfsorganisationen wie Seawatch oder "Jugend Rettet" haben ihren Sitz in Deutschland, auch einige Boote fahren unter deutscher Flagge. Zudem kreuzen vor Libyen auch Hilfsschiffe mit Sitz in Spanien, den Niederlanden, Luxemburg, Gibraltar oder Norwegen. Denkbar ist, dass die Schiffe in Häfen in Spanien oder Frankreich eskortiert werden. Die Folgen wären tagelange Reisen und weniger Kapazitäten der Hilfsorganisationen, neue Flüchtlinge vor Libyen aufzunehmen. Dass die Schlepperorganisationen sich von dieser Lücke beeindrucken lassen und weniger seeuntüchtige Schlauchboote ins Meer lassen, darf bezweifelt werden. Das Risiko für die Migranten würde sich weiter erhöhen.

Erneut geraten nun die privaten Hilfsorganisationen in den Fokus, die seit Sommer 2015 in selbst finanzierten Fahrten und unter der Koordination der italienischen Küstenwache Flüchtlinge vor Libyen aufnehmen. Als "Taxis des Mittelmeers" bezeichneten italienische Politiker die Schiffe, weil sie auch den Schleppern das Handwerk erleichterten. Ein sizilianischer Staatsanwalt behauptete sogar, Schlepper und Helfer arbeiteten teilweise zusammen. Diese Vorwürfe bestätigten sich nicht. Die italienische Küstenwache nahm die Hilfsorganisationen öffentlich in Schutz. Ohne deren Hilfe sei die Rettung sämtlicher Menschen im Mittelmeer nicht möglich. Es bleibt das Dilemma, dass die kriminellen Organisationen in Libyen von der Hilfsbereitschaft profitieren.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort