Seymour Hersh "Als wären sie blind im Weißen Haus"

Washington · Der bekannteste US-Enthüllungsjournalist schildert, wie das US-Militär hinter dem Rücken Obamas mit der syrischen Armee kooperierte.

 Dorn in der Seite der Mächtigen: der Investigativreporter Seymour "Sy" Hersh (79).

Dorn in der Seite der Mächtigen: der Investigativreporter Seymour "Sy" Hersh (79).

Foto: dpa

Seymour Hersh ist ein bestens verdrahteter Rechercheur, und er behauptet Ungeheuerliches: Ab dem Herbst 2013 soll die amerikanische Armeeführung Aufklärungsdaten nach Deutschland, Russland und Israel geschickt haben, damit diese dann an das Assad-Regime weitergegeben werden.

Herr Hersh, Sie beschreiben eine stillschweigende Kooperation des US-Militärs mit dem syrischen, um Baschar al Assad an der Macht zu halten, besonders unter Martin Dempsey, der bis September 2015 Generalstabschef der Armee war. Was motiviert US-Generäle, so zu handeln?

Hersh Was jemanden motiviert, weiß man nie so genau. Ich weiß aber, dass Dempsey ein sehr interessanter Typ von General ist. Er studierte Englisch an der Militärakademie, dann bildende Kunst an der Duke University, einer unserer besten Universitäten. Er interessiert sich sehr für Yeats, den Poeten. Nach seinem Abschied von der Armee begann er an der Duke-Universität zu lehren. Die meisten Generäle in vergleichbarer Lage lassen sich in, sagen wir, vier Aufsichtsräte berufen, wo sie 800.000 Dollar die Woche verdienen, indem sie ihre Kontakte verkaufen. Dempsey ist anders. Ich glaube, er hat den Eid ernst genommen, den er bei seinem Eintritt ins Militär leistete. Man schwört auf die Verfassung, nicht auf den Präsidenten. Leider passiert es allzu oft, dass die Leute im Umfeld des Präsidenten in Gedanken dem Präsidenten die Treue schwören.

Zurück zur Zusammenarbeit amerikanischer und syrischer Militärs. Wann hat sie begonnen?

Hersh Im Frühjahr 2013 häuften sich Geheimdienstberichte über Beweise, nach denen Al Nusra und andere radikale syrische Rebellengruppen, einschließlich des Islamischen Staats (IS), auch wenn der damals noch nicht so gut organisiert war, die Gemäßigten verdrängt hatten. Irgendwann nach Gaddafis Tod im Oktober 2011 hatten wir angefangen, über geheime Kanäle Waffen aus Libyen über die Türkei nach Nordsyrien zu liefern. Spätestens 2013 war klar, dass sie bei den falschen Leuten landeten. Es gab also Grund zur Sorge. Kurzum, die Vereinigten Stabschefs hatten eine andere Sicht auf die Dinge als das Weiße Haus. Dort behaupten sie heute noch, es gebe gemäßigte Rebellen. Das ist verrückt. Wir bewaffnen immer noch Leute, von denen wir irgendwie glauben, dass sie keine Islamisten sind.

Handelten die Generäle ohne Billigung des Präsidenten?

Hersh Die Vereinigten Stabschefs, aber nicht nur die, sondern auch die Defense Intelligence Agency, der militärische Nachrichtendienst, hatten das Gefühl, dass man keinen Wert auf ihre Einschätzungen legte. Es war, als wären sie blind im Weißen Haus. Ich weiß nicht, ob Dempsey dem Weißen Haus sagte, dass er diese Informationen nunmehr an einen Verbündeten weitergibt. Ich weiß, wenn ein Verbündeter um Informationen nachsucht, bekommt er sie oft. Also wurden sie an Deutschland weitergegeben, damit sie schließlich an die syrische Armee gelangen konnten. Eine andere Regel besagt, wenn Alliierte die Vereinigten Stabschefs um etwas bitten, brauchen diese nicht in jedem Fall die Erlaubnis des Weißen Hauses einzuholen. Als ich von der Sache erfuhr, sagten mir meine Kontakte, fass' das nicht an! Ich könne erst darüber schreiben, wenn Dempsey das Amt verlassen habe.

Welches Interesse haben die Deutschen, Assad an der Macht zu halten?

Hersh Wie zum Teufel soll ich das wissen? Als ich Leute in der deutschen Verwaltung kontaktierte, die ich seit Jahren kannte, erwiderten sie meine Anrufe nicht. Sie wollten über das Thema nicht reden. Ich kann Ihnen allerdings sagen, was in meinen Augen Sinn macht: Deutschland will eine stabile Regierung in Syrien. Es will nicht, dass die Aufständischen siegen, denn das bedeutet noch mehr Instabilität. Und Assad ist säkular. Übrigens, wäre ich Putin und sähe mir an, was Amerika tut, würde ich sagen: Moment mal, Saddam war verrückt und gewalttätig, aber seine Regierung war säkular, Sunniten und Schiiten heirateten einander, sie dachten nicht in den Kategorien Sunnit gegen Schiit, bis wir diesen Krieg begannen. Gaddafi hat 2004 eine Wende vollzogen und uns geholfen, Al Kaida zu bekämpfen. Im Sinne einer Antiterrorstrategie ist einfach unsinnig, was wir machen. Außerdem tun wir so, als wäre die russische Furcht vor dem Terror nicht echt. Dabei liegt Damaskus höchstens 1000 Meilen von der russischen Grenze entfernt. Es ist also nicht nur so, dass Putin seinen Einfluss ausdehnen will, um Amerika zu ärgern.

Warum hat Obama nicht irgendwann gesagt, es gibt praktisch keine Gemäßigten mehr unter den syrischen Rebellen, also gibt es auch keine Waffen mehr für die Opposition?

Hersh Nun, lassen Sie mich ein wenig zurückgehen in der Geschichte. Nachdem die Russen in Afghanistan einmarschiert waren, beschlossen Präsident Jimmy Carter und sein Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, es den Russen zu zeigen. Die Russen sollten erleiden, was wir in Vietnam erlitten hatten. Das nennt man wohl Schadenfreude. Also fingen wir an, Osama Bin Laden und die Dschihadisten auszubilden und ihnen Waffen zu geben. Afghanistan wurde für uns zur Erfolgsstory. Russland trat mit eingezogenem Schwanz den Rückzug an, und Bin Laden hatte dafür gesorgt. Also warum diesmal nicht syrische Rebellen mit Waffen versorgen?

Und damit den in Afghanistan gemachten Fehler wiederholen, der zu den Anschlägen des 11. September 2001 führte?

Hersh Vielleicht hat sich unsere Regierung das so vorgestellt: Lass' doch Al Nusra, IS und die anderen Assad töten, danach nehmen wir uns der Sache an. Denkt man darüber nach, kommt man zu dem Schluss: Lass' dich nicht mit diesen Leuten ein, denn die Folgen kannst du nicht abschätzen. Aber wir Amerikaner beherzigen das nicht. Wenn Obama, wie im April geschehen, 250 Soldaten der Special Forces nach Syrien beordert, tut er das auch, um Putin zu zeigen, was du kannst, kann ich schon lange. Neulich hat der Geheimdienstkoordinator James Clapper gesagt, wir gewinnen den Krieg gegen den IS. Es ist, als würde man sagen, ach ja, Russland hat im Zweiten Weltkrieg auch ein wenig geholfen. Wie viele Menschen haben die Russen damals verloren? 20 Millionen? Und wir? Eine halbe Million? Wer hat für uns den Krieg gegen die Deutschen gewonnen? Aber daran wollen wir nur ungern erinnert werden. Ähnlich verhält es sich mit Syrien. Russland hat eingegriffen, worauf Obama orakelte, damit wird Putin in einem Morast versinken, aus dem er sich nicht mehr befreien kann. Putin ist hineingegangen und wieder hinaus, und er hat das Blatt gewendet.

Hat sich das Blatt wirklich gewendet?

Hersh Ja, keine Frage. Assad hing in den Seilen, heute ist er in deutlich besserer Form. Für Assad ist es eine Frage von Leben oder Tod. Verliert er den Krieg, wird er mit seiner Frau und seinen Kindern wie Mussolini enden, aufgeknüpft an einem Baum oder einer Laterne. Und da es um Leben oder Tod geht, bedient er sich aller Mittel. Daher setzt er sogar Fassbomben ein. Ich kenne noch ein Land, das Fassbomben eingesetzt hat: die Vereinigten Staaten von Amerika. In Vietnam haben wir sieben Jahre lang Fassbomben abgeworfen, gefüllt mit Napalm.

(RP)
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