Analyse Als Europa die Nerven verlor

Düsseldorf · Am 1. August 1914, heute vor 100 Jahren, wird auf unserem Kontinent noch um Krieg und Frieden gerungen. Am Abend ist Krieg. Es ist ein kollektives Scheitern der Politik, das Ergebnis einer gigantischen Überforderung.

Es ist gegen 18 Uhr an diesem Sommersamstag, als Generalstabschef Helmuth von Moltke die Tränen kommen. Am 1. August 1914, heute vor 100 Jahren, steht das Schicksal Europas auf Messers Schneide. Noch ist Frieden zwischen den Großmächten, es scheint sogar, als könne das Schlimmste noch vermieden werden. So verstehen zumindest Kaiser Wilhelm und sein Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die neuesten Nachrichten - die Briten könnten neutral bleiben, wenn Deutschland Krieg gegen Russland führe, berichtet der deutsche Botschafter aus London. Bedingung sei nur, dass das deutsche Heer nicht die Grenzen des mit Russland verbündeten Frankreich verletze. Der Kaiser lässt einstweilen alle Truppen stoppen, die schon im Westen aufmarschieren.

Den Generalstabschef bringt das aus der Fassung. "Moltke, sehr erregt, mit bebenden Lippen, beharrte auf seinem Standpunkt", die Mobilmachung sei nicht mehr aufzuhalten, und des Kaisers Befehl drohe ein Chaos auszulösen. Der 66-Jährige habe kurz vor einem hysterischen Anfall gestanden, erinnert sich ein Augenzeuge. Moltke sagt, er sei "völlig gebrochen", weil der Kaiser noch auf Frieden hoffe. Der Generaloberst ist so erschüttert, dass seine Frau einen leichten Schlaganfall befürchtet.

Die Hoffnung auf London erweist sich noch am selben Abend als trügerisch; bereits am Spätnachmittag erklärt Deutschland Russland den Krieg, weil der Zar die Mobilmachung seiner Armee nicht zurücknehmen will. Zwei Tage später folgt die deutsche Kriegserklärung an Frankreich, drei Tage später die britische an Deutschland.

Moltkes Zusammenbruch steht symptomatisch für den Beginn des Ersten Weltkriegs. Fünf Wochen dauert die Krise nun schon, die der Mord am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand durch einen jungen Serben in Sarajevo ausgelöst hat; bereits seit drei Tagen beschießen die Österreicher Belgrad. An diesem 1. August geht es darum, ob aus dem Balkan- ein europäischer Krieg wird, der erste große Waffengang seit 1870/71.

Historisches Museum zeigt Schrecken des Ersten Weltkriegs
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Foto: dpa, gam htf

Krise und Krieg sind keine Zwangsläufigkeiten. Sie sind eine Art kollektivpsychologisches Scheitern - der Historiker Jörn Leonhard spricht von "einer eigenen Wirklichkeit, in der vermeintlich ausweglose Szenarien dominierten, in der klarsichtige Analysen und ein Denken in alternativen Abläufen nicht mehr möglich waren". Mit anderen Worten: Das misstrauische, übernervöse Europa ist überfordert mit sich selbst.

Überfordert ist an diesem Tag vor allem Deutschland. Moltke und sein Generalstab haben keine Ausweichplanung mehr zum Angriff im Westen; Modelle für einen Ostaufmarsch wurden nicht weiterentwickelt. Der Schlieffen-Plan, benannt nach dem früheren Generalstabschef, sieht (unabhängig vom Kriegsgrund) einen Durchmarsch durch das neutrale Belgien vor, um die französische Armee in der Flanke zu fassen und zu vernichten. Dass nun die Balkankrise zu Krieg in Belgien führen soll, ist absurd, aber Deutschland kann eben nicht anders. "Alternativlosigkeit" ist nicht erst seit der Euro-Krise ein gefährliches Denkmuster.

Am 1. August haben die militärischen Planungen schon eine eigene Dynamik, die mit der ursprünglichen Krise nicht mehr viel zu tun hat. Europa steckt im Räderwerk dieser politisch unsinnigen Automatismen - Leonhard nennt sie "jene spezielle Logik, welche die Handlungsräume der Politik einschränkte und in der eigenen Wahrnehmung eine Selbstbindung, eine Abhängigkeit von militärischen Notwendigkeiten entstehen ließ". Überall setzen die Armeen die letzten Schritte in Gang; es folgen Proklamationen "drohender Kriegsgefahr", Teil- und Generalmobilmachungen. Keiner will als Letzter handeln, jeder glaubt, dem Angriff des anderen zuvorkommen zu müssen. Dem französischen Premierminister Georges Clemenceau wird das Wort zugeschrieben, Krieg sei eine zu ernste Sache, um sie den Generälen zu überlassen. Nie war es so wahr wie vor 100 Jahren.

1914 war keine der großen Mächte das Unschuldslamm, keine setzte einen lang geplanten Eroberungskrieg ins Werk - das ist heute Konsens der Forschung. Alle Beteiligten tragen ihren Teil der Verantwortung: Österreich-Ungarn, weil es Sarajevo unbedingt zu einem Krieg gegen Serbien nutzen will; Frankreich, weil es Russland immer wieder zu einer kriegerischen Haltung ermutigt; Russland, weil es maximales Risiko fährt und mit seiner Generalmobilmachung am 30. Juli schließlich den unmittelbaren Kriegsausbruch einleitet; Großbritannien, weil es bis zum Schluss widersprüchliche Signale sendet, die sowohl Berlin als auch Paris über seine Entscheidung für oder gegen Krieg im Unklaren lassen; Deutschland schließlich, weil es schon früh die Falken in Wien in ihrer Eskalationsstrategie bestärkt, später aber bei der Deeskalation versagt. Am Ende ist es dieses Irrlichtern der stärksten Macht des Kontinents, das besonders schwer wiegt.

Gavrilo Princip - der Mann der auf Franz Ferdinand schoss
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Am 1. August 1914 scheitert eine ganze Politikstrategie: der Versuch, so lange und so entschlossen mit Krieg zu drohen, bis der Gegner klein beigibt. Weil das alle tun, geht das Spiel nicht auf. Es gibt für die "Politik des Bluffs" (so hat sie der Reichskanzler noch am 30. Juli genannt) ein englisches Wort: brinksmanship, das "Bis-an-den-Abgrund-Gehen". Geprägt wurde es erst viel später, im Kalten Krieg der 50er Jahre, als sich USA und UdSSR mit gegenseitiger nuklearer Vernichtung bedrohten.

1914 fehlen drei Dinge, um das Äußerste zu verhindern: ausreichend Vertrauen zwischen den Akteuren, ein Mechanismus der Krisenbewältigung, der der Komplexität der Krise angemessen ist - und eine ausreichend fürchterliche Drohung für den Fall des Scheiterns. Es geht eben, so scheint es vielen, "nur" um das Leben einiger Zehntausend Soldaten. Der Preis scheint bezahlbar.

Selten so geirrt.

(RP)
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