Lage in Afghanistan Nato will kein Enddatum für Evakuierung nennen

Berlin · Die Situation am Flughafen Kabul spitzt sich zu. Erstmals ist die Bundeswehr in ein Feuergefecht verwickelt worden. Wie lange die Mission fortgesetzt werden kann, ist offen. Eigentlich wollten die USA in der kommenden Woche den Einsatz vollständig beenden. Zugleich geht das Schwarze-Peter-Spiel in der Bundesregierung weiter.

 Deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte aus Kabul sitzen in einem Airbus A400M der Bundeswehr.

Deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte aus Kabul sitzen in einem Airbus A400M der Bundeswehr.

Foto: dpa/Marc Tessensohn

Die Nato will derzeit kein konkretes Datum für ein Ende der Evakuierungsflüge aus Afghanistan nennen. „Die Lage am Flughafen in Kabul bleibt extrem herausfordernd und unberechenbar“, sagte ein Bündnissprecher am Montag in Brüssel. Gemeinsam mit alliierten Truppen werde daran gearbeitet, die Evakuierungen fortzusetzen. Derzeit verließen täglich Dutzende Flüge Kabul.

Weitere Gespräche zum Thema wird es nach Angaben des Sprechers bei dem per Videokonferenz organisierten G7-Sondergipfel zur Lage in Afghanistan an diesem Dienstag geben. An den Beratungen nimmt auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg teil.

Der Zeitplan der USA sieht eigentlich vor, alle Truppen bis zum 31. August abzuziehen, was bedeuten würde, dass der Evakuierungseinsatz für Ausländer und durch die Taliban gefährdete Afghanen vermutlich schon Ende dieser Woche enden müsste. Zuletzt hat US-Präsident Joe Biden allerdings angekündigt, dass die US-Regierung im Gespräch mit dem Militär über eine mögliche Verlängerung der Evakuierungsmission über das Monatsende hinaus ist. Die Bundesregierung würde eine Verlängerung des US-Einsatzes über August hinaus begrüßen.

Dagegen sprechen allerdings Warnungen der Taliban. Sie wollen einer Verlängerung der Evakuierungsmission westlicher Staaten nicht zustimmen. Dass der Betrieb des Flughafens in Kabul ohne die USA aufrechterhalten werden kann, gilt als unwahrscheinlich. Sie waren zuletzt mit etwa 5800 US-Soldatinnen und -Soldaten vor Ort, um nach der Machtübernahme der Taliban den Evakuierungseinsatz abzusichern.

Deutschland hat nach Angaben von Generalinspekteur Eberhard Zorn rund 3000 Menschen aus Kabul ausgeflogen. Unter ihnen seien 1800 Afghanen, 143 Deutsche sowie 350 Bürger der übrigen EU, sagt Zorn. Auf dem Flughafengelände befänden sich aber immer noch 5000 Menschen.

Mehr als 90 frühere und aktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der deutschen Entwicklungszusammenarbeit haben sich angesichts dessen mit einem dramatischen Appell an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), Innenminister Horst Seehofer (CSU), Außenminister Heiko Maas (SPD) und Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) gewandt. In einem offenen Brief, der unserer Redaktion vorliegt, schreiben sie: „Wir nehmen mit großer Sorge wahr, dass sich der Schutz nur auf Mitarbeitende beziehen soll, deren Beschäftigungsverhältnis nicht länger als zwei Jahre zurückliegt.“ Darunter gebe es sogar Fälle, denen aufgrund einer Gefährdungsanzeige gekündigt wurde (!) und deren Schutzgesuch nun mit Verweis auf das zu lange zurückliegende Beschäftigungsverhältnis verweigert wird, heißt es in dem Brief. Die Experten für Entwicklungszusammenarbeit fordern darin die akute Schutzbedürftigkeit auf andere ehemalige Ortskräfte und deren Familien auszudehnen, „insbesondere auf diejenigen, die bereits in der Vergangenheit Gefährdungsanzeigen gestellt haben, Angriffsziel waren und mit hoher politischer Sichtbarkeit aktiv waren“.

Unterdessen wurden am Montagmorgen deutsche Soldaten vor dem Flughafen erstmals in ein Feuergefecht mit unbekannten Angreifern verwickelt. Eine afghanische Sicherheitskraft wurde dabei getötet, drei weitere verletzt. Weil der Zugang zum Flughafen immer schwieriger wird, ist die Truppe nun auch außerhalb des massiv gesicherten Geländes im Einsatz, um Menschen in Sicherheit zu bringen. Daran sind übereinstimmenden Berichten zufolge auch Elitesoldaten des Kommandos Spezialkräfte beteiligt.

Begleitet wird die Evakuierungsaktion in Deutschland weiter von der Debatte über politische Konsequenzen aus den Fehleinschätzungen, die vor der Machtübernahme der Taliban getroffen wurden. Als erstes Regierungsmitglied schloss Kramp-Karrenbauer (CDU) persönliche Konsequenzen aus den Fehlern nicht aus. „Wenn diese Mission zu Ende ist, dann werde ich für mich selbst sehr genau überlegen, welche Verantwortung ich getragen habe, welcher Verantwortung ich gerecht geworden bin, wo vielleicht auch nicht - und welche Schlüsse ich persönlich daraus ziehen muss“, sagte sie. Kramp-Karrenbauer hat wie auch Merkel (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) Fehleinschätzungen der Lage in Afghanistan klar eingeräumt.

Unterdessen forderte der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, einen nationalen Sicherheitsrat auf Bundesebene. „Die jüngsten Entwicklungen sind  ein Beispiel dafür, dass wir an unseren Entscheidungsstrukturen in Berlin arbeiten müssen“, sagte Ischinger unserer Redaktion. „Man hat ja den Eindruck, dass die Ministerien nicht sonderlich gut zusammen gearbeitet haben – und das hat nun gravierende Konsequenzen für viele Menschen, aber eben auch für die außenpolitischen Interessen und das Gewicht der Bundesrepublik.“ Er freue sich, dass die Forderung ,den Bundessicherheitsrat auszubauen und Außen- und Sicherheitspolitik in einem solchen Gremium systematisch besser zu koordinieren, nun auch parteiübergreifend – von Armin Laschet (CDU) über die FDP bis Annalena Baerbock (Grüne) – auf Zustimmung stoße. „Ich hoffe sehr, dass es sich die nächste Bundesregierung zur Aufgabe macht, eine solche Struktur zu etablieren und mit Leben zu füllen“, sagte Ischinger. Er mahnte: „Schwierige oder gar gefährliche außenpolitische Situationen, in denen die Bundesregierung eine gemeinsame tragfähige Strategie benötigt, werden uns  in der Zukunft häufiger bevorstehen. Darauf müssen wir organisatorisch und ressourcenmäßig vorbereitet sein“, sagte Ischinger.

(jd/dpa/afp/rtr)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Arbeit für Baerbock
Russlands Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine ruft Nato auf den Plan Arbeit für Baerbock
Aus dem Ressort