Calais Abschied vom "Dschungel"

Calais · Hunderte Flüchtlinge sind gestern aus dem Lager in Calais ausquartiert worden. Die Räumung verlief ohne Zwischenfälle.

"Ans Ziel Ihrer Träume" steht auf dem silbergrauen Reisebus, der gestern Morgen das Flüchtlingslager von Calais verlässt. Drinnen sitzen allerdings keine Urlauber, sondern rund 50 Sudanesen auf dem Weg in die Bretagne. Für die Insassen ist das Aufnahmezentrum, das dort auf sie wartet, zwar nicht das Ziel ihrer Träume, aber immerhin eine Etappe.

Denn diejenigen, die als Erste den "Dschungel" von Calais verlassen, wollten auch von dort weg. "Es gibt zwei Gruppen: die, die gerne gehen, und die, die zögern", sagt die Präfektin der Region, Fabienne Buccio. Am Montag ist die erste Gruppe dran - ein Grund, weshalb die Räumung des Camps zunächst ohne Zwischenfälle verläuft. In den nächsten Tagen könnte sich das allerdings ändern.

Nachdem es in der Nacht zuvor noch zu Ausschreitungen gekommen ist, stehen schon ab fünf Uhr morgens zahlreiche Flüchtlinge in Decken und Schals eingehüllt mit einem Koffer oder Rucksack vor der Halle, die sie vor ihrer Abreise passieren müssen. Dort müssen sie ihre Personalien angeben und sich auf einer Frankreich-Karte, die ihnen Helfer der Migrationsbehörde OFII zeigen, zwischen zwei Zielen - außer den Großraum Paris sowie Korsika - entscheiden. Dann bekommen sie ein farbiges Plastikarmband, das die Zielregion anzeigt.

Mehr als 700 Flüchtlinge, bewacht von etwa 1250 Polizisten, verlassen so bis gestern Mittag das Lager. 2000 der insgesamt rund 6500 Camp-Bewohner, von denen ein Großteil aus Afghanistan, Äthiopien, Eritrea und dem Sudan stammt, sollten es am Tagesende sein. Die komplette Räumung soll allerdings noch eine Woche dauern. "Ich bin bereit, überall in Frankreich hinzugehen. No problem", verkündet ein Sudanese im Radiosender France Info. "Alles hängt davon ab, wo sie hinkommen", sagt Amin Trouvé Baghdouche von der Hilfsorganisation "Médecins du Monde". "Es gibt gute und schlechte Aufnahmezentren."

Die 450 "Centres d'Accueil et d'Orientation" ("Willkommens- und Orientierungszentren"), in die die Flüchtlinge von Calais gebracht werden, sind in Frankreich umstritten. Einige Regionen wie Auvergne-Rhône-Alpes, die vom Parteichef der Konservativen, Laurent Wauquiez, geführt wird, lehnen die Zentren ab. Auch der rechtsnationale Front National (FN) macht Stimmung gegen die Verteilung der Flüchtlinge. "Keine Migranten in meiner Kommune" lautet der Slogan von Bürgermeistern des FN.

"In einem Aufnahmezentrum habt ihr die Garantie, unter würdigen Bedingungen untergebracht und ernährt zu werden", werben hingegen die Behörden auf Flugzetteln im Lager für die neuen "Centres", die im Gegensatz zum "Dschungel" mit seinen unbefestigten Zelten und Hütten ein festes Dach über dem Kopf versprechen. Die Behörden arbeiteten seit Langem mit Hilfsorganisationen zusammen, um die Menschen davon zu überzeugen, die Lager zu verlassen, die rund um Calais entstanden - diese wurden schon mehrmals aufgelöst, ohne dass die Flüchtlinge wirklich aus der französischen Hafenstadt verschwanden.

Diesmal werde das nicht passieren, da es echte Alternativen für die Migranten gebe, versichern die Behörden. Die Hilfsorganisationen rechnen allerdings damit, dass zahlreiche Flüchtlinge wieder zurückkehren, da sie nach England wollen, wo sie Familie haben oder auf Arbeit hoffen. "Wir bereiten uns darauf vor, dass neue wilde Lager entstehen", sagt Baghdouche. Das befürchtet auch Calais' konservative Bürgermeisterin Natacha Bouchart: "Wir sind in ständiger Alarmbereitschaft, dass nicht neue Flächen in der Stadt oder in der Umgebung besetzt werden." Bereits vor der Entstehung des "Dschungels" hausten die Flüchtlinge in Parks, auf verlassenen Fabrikgeländen und unter Brücken. Zudem übt die Bürgermeisterin Kritik an den zuständigen französischen Behörden, die zu spät reagiert hätten. "Wenn man das schon im März gemacht hätte, wäre es weniger kompliziert gewesen", sagte Bouchart.

Verlassen müssen das Lager auch die unbegleiteten Minderjährigen, von denen nach Angaben der verschiedenen Hilfsorganisationen rund 1200 im Lager leben. Sie würden, von Helfern begleitet, woanders hingebracht, versichert die Präfektin. Dennoch machen sich die Hilfsorganisationen Sorgen um die Kinder zwischen acht und 18 Jahren, denn bei der Räumung des südlichen Lagerteils im Frühjahr waren rund 100 von ihnen spurlos verschwunden. "Die Auflösung des nördlichen Bereichs lässt ebensoviele Vermisste befürchten", warnt der Europarat.

(RP)
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