Analyse Abschiebung oder Hartz IV

Brüssel/Berlin · EU-Ausländer, die nie in Deutschland gearbeitet haben, haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Doch die Bestimmung könnte kippen. Dann müssten deutsche Behörden viel häufiger ausweisen – oder zahlen.

Analyse: Abschiebung oder Hartz IV
Foto: Caro / Oberhaeuser

Der Streit um Armutszuwanderung zwischen Deutschland und Brüssel geht in eine neue Runde. Und dieser Streit wird umso erbitterter ausgetragen, weil dabei wichtige europäische Prinzipien mit ökonomischen Realitäten kollidieren. Die EU-Kommission ist ganz in ihrer Rolle, wenn sie die Freizügigkeit innerhalb der EU und die Gleichbehandlung ihrer Bürger in allen Mitgliedsstaaten verteidigt. Doch die Lebensverhältnisse innerhalb der EU sind weiterhin sehr unterschiedlich. Deswegen gibt es nationale Regelungen, die letztlich darauf zielen, Zuwanderung aus ärmeren in reichere Regionen zu bremsen.

Der Migrationsforscher Herbert Brücker ist kategorisch: "Solange die Sozialsysteme der EU-Länder unterschiedlich sind, werden wir einen Sozialleistungs-Ausschluss für Neuzuwanderer brauchen. Andernfalls besteht tatsächlich ein zu großer Anreiz für bestimmte Migrantengruppen, in die Länder mit höheren Leistungen zu ziehen."

Während der ersten drei Monate des Aufenthalts in einem anderen Land der EU kann EU-Bürgern ohne Job oder Personen, die erstmals eine Anstellung suchen, Sozialhilfe verweigert werden. In Deutschland sind Arbeitsuchende und arbeitslose Zuwanderer aus EU-Ländern allerdings auch über diese dreimonatige Sperre hinaus generell von Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen. Diesen pauschalen Leistungsausschluss hat die EU-Kommission jetzt in ihrer Stellungnahme für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bemängelt. Alle EU-Bürger hätten ein Anrecht darauf, gleich behandelt zu werden. Daher müsse jeder Fall einzeln geprüft werden. Verwiesen wird dabei auf ein entsprechendes Urteil des EuGH vom vergangenen Herbst.

Für den Chef des Rechtsausschusses im Europaparlament, Klaus-Heiner Lehne (CDU) aus Düsseldorf, ist der Vorgang daher auch überhaupt nicht überraschend. Statt pauschaler Ablehnung verlange die Kommission eine Beurteilung des Einzelfalls. "Damit folgt sie nur der Rechtsprechung des EuGH", so Lehne.

An der orientieren sich im Übrigen auch viele deutsche Sozialgerichte bereits seit Längerem. In den vergangenen Jahren mussten die Kammern über zahlreiche Klagen von Zuwanderern entscheiden, denen die deutschen Jobcenter gemäß der Bestimmungen des Sozialgesetzbuches finanzielle Leistungen verweigert hatten. Mehr als 200 Urteile wurden gefällt, und die meisten sprachen den Klägern am Ende Sozialleistungen zu. Darunter in einigen Fällen auch Ausländern, die nicht aktiv nach Arbeit gesucht hatten. Grund dafür war häufig, dass die Kläger völlig mittellos waren, also humanitäre Erwägungen eine Rolle spielten. Aber eben auch die Einschätzung der Richter, dass das deutsche Gesetz in diesen Fällen mit der Rechtsprechung des EuGH und dem Diskriminierungsverbot kollidiert: Schließlich erhalten auch Deutsche, die keine Arbeit finden oder suchen, Hartz-IV-Leistungen.

Der EuGH wird ein abschließendes Urteil zur deutschen Sozialgesetzgebung frühestens im Herbst oder sogar erst 2015 fällen. Aber inzwischen deutet alles darauf hin, dass die Bestimmungen des Sozialgesetzbuches von den Luxemburger Richter als unvereinbar mit europäischem Recht eingestuft werden – nichts anderes sagt auch die EU-Kommission. Dann müsste entweder deutsches Recht angepasst werden, oder aber – das ist jedoch unwahrscheinlich – die europäischen Bestimmungen müssten verändert werden.

Europaweit ist bisher geregelt, dass in den ersten drei Monaten nach Einreise kein Anspruch auf Sozialleistungen besteht. Maximal ein halbes Jahr kann der Einwanderer nach Arbeit suchen, dann hat der Nationalstaat das Recht, ihn auszuweisen. "Es könnte eine Situation eintreten, in der wir zwar EU-Bürger nach vergeblicher Arbeitsuche ausweisen können, aber wenn wir das nicht tun, sie mit Blick auf Hartz IV komplett gleichbehandeln müssen", warnt Klaus-Heiner Lehne. Zugespitzt laute die Wahl dann: Entweder abschieben oder Sozialleistungen auszahlen. "Wir müssen die rechtlichen Möglichkeiten zur Ausweisung konsequenter nutzen", folgert Lehne.

Denn Möglichkeiten, offensichtlichen "Sozialtourismus" zu unterbinden, gibt es. So muss ein Zuwanderer, um sein Aufenthaltsrecht zu erlangen, den nationalen Behörden gegenüber eigentlich ausreichende Mittel nachweisen, die mindestens der Einkommensschwelle entsprechen, unterhalb derer Sozialhilfe gewährt wird. Außerdem hat der EuGH festgestellt, dass EU-Ausländern durchaus auch Leistungen verweigert werden dürfen, wenn sie "eine unangemessene Belastung" des nationalen Sozialhilfesystems darstellen. Dies muss aber im Einzelfall geprüft werden. Dabei müssen der Betrag und die Dauer der Belastung ebenso berücksichtigt werden wie die Frage, ob sich die betreffende Person nur vorübergehend in einer schwierigen Situation befindet. "Stellen die Behörden auf dieser Grundlage fest, dass die betreffende Person zu einer übermäßigen Belastung geworden ist, können sie ihr das Aufenthaltsrecht entziehen", betonte die EU-Kommission gestern.

Hintergrund der Debatte ist, dass für Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien seit dem 1. Januar die volle Freizügigkeit innerhalb der EU gilt. Nach Zahlen des Bundesarbeitsministeriums ist bisher der Anteil der Rumänen und Bulgaren unter Hartz-IV-Beziehern mit 0,6 Prozent aber sehr gering. Die Bundesagentur für Arbeit registrierte 2012 für Zuwanderer aus Südosteuropa eine Arbeitslosenquote von 9,6 Prozent, also nur wenig mehr als bei den Deutschen. Die Behörde schließt daraus, dass es sich bei der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien nicht um Armuts-, sondern um Arbeitsmigration handelt. Und die sei positiv.

(RP)
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