Dohuk 5,3 Millionen Einwohner, zwei Millionen Flüchtlinge

Dohuk · Seit der Offensive der IS-Dschihadisten im Mai 2014 lebt die Autonome Provinz Kurdistan im Nordirak im Ausnahmezustand.

Kahle Berghänge umgeben Dohuk, die drittgrößte Stadt der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Die Stadt ist in den letzten 25 Jahren schnell gewachsen, überall an den Rändern fressen sich Neubaugebiete in die terrassierten Gärten der angrenzenden Berge. Wer die Wohnbebauung hinter sich lässt, blickt auf einen ausufernden Siedlungsbrei. Zwischen den Neubaugebieten zeichnen sich zahlreiche Moscheen, zwei Kirchen und mehrere Einkaufszentren ab.

Dohuk wirkt wie immer. "Für uns hat sich alles verändert", widerspricht Maha Jameel, Architektin und Dozentin für Stadtplanung an der Universität Dohuk. "Für uns gibt es nur eine Zeitrechnung, vor dem Juni 2014 und danach." Damals begann der Angriff des Islamischen Staats (IS), damals eroberten die Extremisten Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak. Mossul ist ja nur 60 Kilometer von Dohuk entfernt, das von IS kontrollierte Gebiet gar nur 40 Kilometer.

Die Veränderungen sind auch in Dohuk sichtbar: Die vielen stillgelegten Baustellen, die leerstehenden Läden und Geschäftshäuser in den Vororten, die früher von assyrischen Christen bewohnt waren. Wer weiß, wo sie geblieben sind, vielleicht in Schweden in Sicherheit oder in Deutschland in einem Erstaufnahmelager.

"Vorher" hatte die Autonome Region Kurdistan über fast zehn Jahre einen Wirtschaftsboom erlebt mit jährlichen Wachstumsraten von acht Prozent. Immer mehr Menschen zogen in die Städte, viele konnten sich Häuser und neue Autos leisten. Jetzt ist die Neubautätigkeit praktisch zum Erliegen gekommen. Der Boom ist in eine Krise umgeschlagen. Deutlich spürbar ist das für alle Staatsbediensteten: Sie haben seit vier Monaten keinen Sold bekommen, weil die Zentralregierung in Bagdad das Geld nur schleppend an die kurdische Regionalregierung überweist.

Dohuk ist eine Stadt im Ausnahmezustand, die Autonome Region Kurdistan ein Land im Krieg gegen das IS-"Kalifat". Und trotzdem hat sich das Alltagsleben bemerkenswert wenig verändert. Auf dem Basar pulsiert das Leben, Taxis und Privatautos stehen in der Innenstadt im Stau, die Schulen und die Universitäten arbeiten weiter. Kein Lehrer streikt, nur weil er auf sein Gehalt warten muss. Man muss sich vor Augen halten, dass die Autonome Region Kurdistan bei 5,3 Millionen Einwohnern nahezu zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien und Binnenflüchtlinge aus den vom IS besetzten Gebieten des Irak aufgenommen hat. Die meisten von ihnen leben seit 18 Monaten in riesigen Flüchtlingslagern. Aber wer kann, sucht sich Arbeit in der Stadt als Hilfskraft im Handel, in einem Restaurant, als Lagerarbeiter oder als Taxifahrer. Keiner weiß, wie viele Flüchtlinge in Dohuk, einer Stadt mit offiziell 320.000 Einwohnern, inzwischen Unterschlupf gefunden haben.

Zaid ist einer von ihnen, ein schlaksiger junger Mann, gerade 19 Jahre alt. Er kommt aus einer arabischen Familie und ist in der Sindschar-Ebene aufgewachsen. "Ich habe Glück gehabt. Ich habe vorher schon schwere Lkw gefahren, deshalb habe ich den Job als Taxifahrer bekommen." Auf Umwegen ist die achtköpfige Familie vor anderthalb Jahren in einem Flüchtlingslager 60 Kilometer von Dohuk entfernt gelandet. "In den Zelten war kein Strom, keine Heizung im Winter. Und Trinkwasser gab es jeden Tag nur zwei Stunden lang. Das haben meine Eltern nicht ausgehalten, vor dem Winter mussten wir einfach weg!" Jetzt finanziert Zaid mit seinem Lohn die Wohnung und den Unterhalt für die ganze Familie: Vater, Mutter, Geschwister.

Andere verbringen jetzt schon den zweiten Winter im Lager. Zum Beispiel jesidische Flüchtlinge aus der Region Sindschar im Lager Khanke, ein gute halbe Stunde Autofahrt von Dohuk entfernt. Von der Einfahrt des Camps zieht sich die riesige Zeltstadt über viele Hügel bis zum Horizont. 4000 Wohnzelte hat das Flüchtlingshilfswerk UNHCR für Khanke bereitgestellt. In jedem Zelt lebt eine Großfamilie, das sind jeweils zwischen sechs und zwölf Personen. Im gesamten Camp mögen so zwischen 30.000 und 40.000 Menschen untergebracht sein.

Gerade ist ein Sattelschlepper aus der Türkei mit einer Lieferung von Päckchen mit Toilettenartikeln für das Lager angekommen. Die zehn- bis zwölfjährigen Jungen sind mächtig stolz, dass sie beim Ausladen helfen dürfen. Ob sie zurück nach Sindschar wollen? "Ja, natürlich!" Aber die Älteren unter ihnen wissen auch, dass an Heimkehr noch lange nicht zu denken ist. Auch wenn Sindschar von kurdischen Peschmerga-Kämpfern befreit wurde, sind alle Dörfer zerstört und die Felder voller Minen. Die Erwachsenen denken eher ans Auswandern. Jeder kennt hier die Tarife der Schlepper und rechnet insgeheim durch, wie weit die eigenen Ersparnisse reichen. Seit die Türkei ihre Grenzen besser schützt, sei die Reise über die Mittelmeerroute nach Deutschland fast doppelt so teuer geworden, erzählen sie.

(RP)
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