Frau Klosa-Kückelhaus, die drei Kandidaten für das Jugendwort des Jahres 2023 waren „goofy“, „Side Eye“ und „NPC“ für Non Player Character. Was sagt Ihnen das als Sprachforscherin, als Wortschatzforscherin, als Linguistin?
Tipps von der Linguistin Wie groß unser Wortschatz ist - und wie wir ihn erweitern können
Audio | Düsseldorf · Eine halbe Million Wörter gibt es ungefähr im Deutschen - Tendenz steigend. Aber die meisten von uns benutzen nur einen Bruchteil davon. Wie sich unser Wortschatz verändert und welche historische Figur vermutlich einen der größten Wortschätze besaß, verrät die Leibniz-Forscherin Anette Klosa-Kückelhaus.
Anette Klosa-Kückelhaus Erst mal freue ich mich, dass goofy dabei ist. Denn die Figur Goofy gefällt mir sehr gut und das Adjektiv kenne ich schon länger. Ich war ein bisschen überrascht, dass es in der Jugendsprache so hoch gekommen ist.
Sie meinen, weil Sie das auch benutzen, oder?
Klosa-Kückelhaus Genau, weil ich mich mit über 50 nicht zu den jugendsprachlichen Sprecherinnen zählen würde. Aber vielleicht ist es mir auch aus dem Englischen präsent. Und da sind wir natürlich beim Thema, dass Anglizismen immer wieder eine Rolle spielen bei den Jugendwörtern. Das sieht man auch an den anderen: Side Eye, das kenne ich eher aus Memes. Dass man Fotos auf Instagram sieht, wo jemand zur Seite guckt oder ein Tier einen entsprechenden Gesichtsausdruck hat. Ich frag mich immer, wie Jugendliche das im Gespräch verwenden. Sagen die dann vielleicht einfach: "Oh Side Eye"?
Nee, die sagen: "Der hat mir Side Eye gegeben."
Klosa-Kückelhaus Genau. Also: "Der hat mich von der Seite kritisch angeguckt", würden wir dazu sagen.
Okay, und eine Abkürzung ist auch was Typisches.
Klosa-Kückelhaus Tatsächlich. Unter den Neologismen - und viele Neologismen tauchen in der Jugendsprache auf - sind immer mal wieder Abkürzungen.
Neologismen sind Wortschöpfungen, also neue Wörter.
Klosa-Kückelhaus Genau , neue Wörter. Das können Entlehnungen sein wie in unseren Fällen. Das können neue Abkürzungen sein. Das können normale neue deutsche Komposita oder Ableitungen sein. Und es gibt auch den Fall, dass neue Bedeutungen entstehen zu schon vorhandenen Wörtern.
Nun sind ja "goofy", also jemand, der so ein bisschen tappig ist und immer über seine eigenen Füße stolpert wie diese Comicfigur aus der Disney Welt, "Side Eye" und "NPC" alle abwertend. Ist das typisch für diese Zeit oder hat man Zeiten, in denen solche Begriffe ganz nach oben kommen?
Klosa-Kückelhaus Ich glaube, das ist vor allem typisch für Jugendsprache, wo immer emotional aufgeladener Wortschatz und Schimpfwörter hochkommen. Ob es typisch ist für den deutschen Wortschatz allgemein, würde ich bezweifeln, wenn ich mir überlege, was wir alles an Material in unserem Neologismen-Wörterbuch gesammelt haben. Da gibt es auch solche expressiven Ausdrücke, aber die sind deutlich in der Minderzahl.
Gucken wir nochmal auf die Jugendlichen. Warum brauchen die eigene Begriffe? Warum suchen die eine eigene Sprache?
Klosa-Kückelhaus Die suchen sie vor allem, um miteinander zu kommunizieren. Das ist der Sinn und Zweck von jeder Sprache, dass ich mich dem anderen verständlich machen will. Das ist bei Jugendlichen nicht anders als bei uns. Aber mit dieser speziellen Jugendsprache grenzen sie sich gegenüber allen anderen ab, nicht nur gegenüber den Erwachsenen und den Kindern, sondern auch gegenüber anderen jugendlichen Gruppen.
Da sehen wir den zweiten Zweck: Sie solidarisieren sich damit untereinander und sie zeigen ihre Zugehörigkeit, wenn sie bestimmte Ausdrücke in ihrer Gruppe, in ihrer Clique sprechen. Und sobald die nach außen bekannt sind, wie die Wörter, die wir anfangs erwähnt hatten, werden sie wahrscheinlich von den Jugendlichen selbst kaum noch verwendet?
Das wollte ich fragen: Unter welchen Bedingungen werden solche Begriffe zum allgemeinen Wortschatz gezählt?
Klosa-Kückelhaus Sie werden dann allgemein gebräuchlich, wenn sie über die Medien verbreitet werden und dann so ein bisschen in die allgemeine Alltagssprache übergehen. Das ist noch nicht unbedingt Standardsprache, aber eben das, was wir vielleicht zu Hause sprechen. Das Phänomen kennt man sicher auch, wenn man selbst jugendliche Kinder hat, dass da manches abfärbt.
Es gibt auch den Fall, dass ehemals Jugendliche Dinge ins Erwachsenenalter selbst mitnehmen und Wörter verwenden, die sie als 16-jährige kennengelernt haben. Dann färbt das unter Umständen auf deren Umgebung ab. Aber ich glaube, den größten Einfluss haben die Massenmedien. Wenn das dort aufgegriffen wird, dann geht das irgendwann in den allgemeinen Wortschatz über.
Und welche Bedeutung haben Tabus? Ich kann mich erinnern, dass ich das erste Mal, als ich das Wort "geil" benutzt habe, richtig rot geworden bin, weil ich genau weiß, dass das bei mir zu Hause streng verboten war. Das war anrüchig, das war unmöglich, dieses Wort überhaupt zu denken. Und heute sagen das alle.
Klosa-Kückelhaus Ja, das ist enttabuisiert, würde ich sagen. Das ist nicht mehr so besetzt, so sexuell konnotiert, wie es ursprünglich war. Es hat sich eine neue Bedeutung entwickelt. Im Grunde heißt es nur noch "toll" und dadurch hat "geil" ganz andere Ausdrücke, mit denen man sonst "toll" bezeichnet hat, ersetzt und seine ursprüngliche Färbung verloren.
Ich kann mich erinnern, dass wir das zuhause auch nicht sagen sollten und dass ich lange gezögert habe. Eigentlich ist es ein Wort, was mir selbst immer noch nicht über die Lippen kommt, aber ich glaube, das ist altersbedingt. Ich sage halt eher "toll" statt "geil". Aber das Tabu gibt es nicht mehr. Wir haben keine Konnotation mehr mit dem ursprünglichen Kontext, in dem es tabuisiert war - im Bereich der Sexualität.
Sie haben eben schon gesagt, es gibt ganz viele Vokabeln, die aus dem englischen und dem amerikanischen Wortschatz in unseren Wortschatz einwandern. Welche Bedeutung hat das?
Klosa-Kückelhaus Zunächst mal würde ich sagen, sind es gar nicht so viele Wörter, die aus dem Englischen in das Deutsche einwandern, auch wenn uns das immer so vorkommt. Wenn wir nämlich den Gesamtwortschatz betrachten und zum Beispiel ein Wörterbuch auswerten würden wie unser Neologismen-Wörterbuch, dann sehen wir, dass das nicht einmal die Hälfte des neuen Wortschatzes ist, sondern vielleicht ein Drittel. Wir vergessen immer, dass das Deutsche viel produktiver ist, selbst neuen Wortschatz zu bilden. Auf der anderen Seite sind der entlehnte Wortschatz und die Anglizismen uns sehr präsent.
Wie meinen Sie das?
Klosa-Kückelhaus Viele von diesen Wörtern kommen unheimlich häufig vor. Wenn man durch die Stadt geht, steht an den Schaufenstern zum Beispiel "Sale" und nicht mehr "Schlussverkauf". Oder wenn man an die Corona-Zeit denkt, dann sind uns bestimmte Anglizismen ständig begegnet: "Social Distancing" zum Beispiel oder "Homeschooling". Dadurch entsteht ein bisschen das Gefühl, dass alles voll mit Anglizismen ist. In bestimmten Bereichen wie der Wirtschaft oder der Werbung zum Beispiel begegnen sie uns tatsächlich häufiger.
Merkt man denn, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist? Ich kann mich erinnern, dass wir auch mal über "Babo" diskutiert haben als Jugendwort des Jahres. Das sind ja nicht nur englische und amerikanische Begriffe, sondern ganz viele Begriffe auch aus anderen Gruppen, die in den deutschen Wortschatz migrieren.
Klosa-Kückelhaus Nicht nur der "Babo" ist da, sondern es gibt zum Beispiel Jugendliche, die sagen "Habibi" für Liebling. Das wäre jetzt auch ein Lehnwort aus dem Migrationskontext. Aber die sind zahlenmäßig insgesamt dem Englischen unterlegen. Wir haben auch Entlehnungen aus anderen Sprachen.
Welche wären das zum Beispiel?
Klosa-Kückelhaus Denken Sie mal an Essen und Trinken. Da kommt allerlei Italienisches mit "Ciabatta" oder "Latte Macchiato". Wir haben Entlehnungen aus asiatischen Sprachen. Da kann man an "Feng Shui" denken, "Karaoke", "Matcha-Tee" und ähnliches. Da sieht man, dass die Kontakte vielfältig sind.
Ob das alles mit uns als Einwanderungsland zu tun hat, das möchte ich bezweifeln. Da sehen wir eher, dass sich solche Mischsprachen entwickeln. Es gibt viele Menschen, die zwischen zum Beispiel Türkisch und Deutsch ganz einfach hin und her wechseln können, teilweise im gleichen Satz. Das wirkt sich aber nicht unbedingt stark auf den Wortschatz aus, dass wir jetzt haufenweise türkische Lehnwörter hätten. Das beobachten wir eigentlich nicht.
Wie viel Wandel gibt es denn überhaupt in der Sprache?
Klosa-Kückelhaus Sie haben jetzt nach dem Wandel in der Sprache gefragt. Ich würde speziell was zum Wortschatz sagen. Es gibt auch grammatischen Wandel. Das wäre ein anderes Thema. Das ist auch vielen Sprechern vertraut, dass manche meinen, der Genitiv verschwindet zum Beispiel. Da gibt es auch Wandelphänomene, die brauchen aber meistens länger. Wortschatzwandel beobachten wir praktisch täglich. Ich glaube, das ist auch vielen bewusst, dass uns immer wieder neue Wörter begegnen. Tatsächlich verschwinden auch manche Wörter. Also, der Wortschatz wächst insgesamt und ein bisschen nimmt er hier und da ab.
Ist es so, dass er insgesamt wächst? Oder ist es so, dass Menschen immer weniger Vokabeln benutzen, je stärker sie sich mit anderen Menschen unterhalten, deren Muttersprache nicht Deutsch ist?
Klosa-Kückelhaus Also, insgesamt wächst der Wortschatz des Deutschen allein dadurch, dass wir immer wieder neue Gegebenheiten haben in der Welt. Neue Dinge entstehen, neue Gegenstände, die bezeichnet werden müssen. Allein deshalb gibt es immer wieder neuen Wortschatz.
Auf der anderen Seite verschwinden auch immer wieder Wörter.
Klosa-Kückelhaus Genau, das passiert aber viel seltener. Wörter verschwinden dann, wenn das, was wir damit bezeichnen, nicht mehr existiert. Bestimmte historische Phänomene: Eine Wählscheibe auf dem Telefon gibt es überhaupt nicht mehr. Damit würden solche Wörter dann auch verschwinden. Zumindest nur dann nicht, wenn wir nicht auf diese vorherige Zeit, die frühere Zeit verweisen würden.
Aber dass Menschen ihren eigenen Wortschatz verkleinern, weil sie zum Beispiel im Gespräch mit Anderssprachigen bewusst darauf verzichten würden, da würde ich entschieden widersprechen. Denn wir unterscheiden zwischen aktivem und passivem Wortschatz.
Was bedeutet das?
Klosa-Kückelhaus Das, was wir aktiv tatsächlich benutzen, ist immer nur ein Teil dessen, was wir passiv, wenn wir Texte lesen oder was hören, durchaus verstehen. Und diese Wörter verlernen wir nicht, weil wir in bestimmten Situationen darauf verzichten, damit wir dem Gegenüber verständlich werden. Die bleiben bei uns im mentalen Lexikon verankert und können jederzeit im Gespräch mit anderen wieder hervorgerufen werden.
Also, wir verstehen viel mehr, als wir sprechen. Wie viele Wörter gehören zu einem guten aktiven Wortschatz?
Klosa-Kückelhaus Man schreibt Goethe zu, dass er um die 90.000 Wörter aktiven Wortschatz hatte. Das hat er in seinen Werken verwendet. Das erreichen kaum andere Schriftsteller. Es kommt auf den Bildungsstand und das Alter an - aber bei einem durchschnittlichen erwachsenen Bürger schätzt man um die 40.000 bis 50.000 Wörter. Bei Jugendlichen zum Beispiel sind wir bei unter 20.000, wenn die gegen Ende ihrer jugendlichen Zeit sind.
Da sieht man: Das ist schwer zu messen und verändert sich ständig bei den Menschen. Und natürlich verlieren Menschen krankheitsbedingt im Alter wieder Wortschatz. Da kann sich der Wortschatz verringern, wenn bestimmte Demenzerscheinungen und ähnliches dazu führen, dass wir unsere Sprache leider verlieren.
Und wie viele Wörter gibt es im Deutschen?
Klosa-Kückelhaus Auch das kann man ganz genau gar nicht sagen. Man schätzt, dass der allgemeine Wortschatz etwa 500.000 Wörter umfasst. In den dicksten Wörterbüchern steht noch nicht mal die Hälfte davon. Aber wenn wir in all die Fachsprachen schauen, was es da an Terminologie gibt zum Beispiel, dann gibt es Schätzungen, die das weit übertreffen.
Wir reden also mit ungefähr zehn Prozent des allgemeinen deutschen Wortschatzes. Wie viel verstehen wir davon?
Klosa-Kückelhaus Ich würde denken, normalerweise alles. Die vielen Wörter, die wir gar nicht aktiv verwenden, sind meistens Komposita, also Zusammensetzungen oder Ableitungen. Und die können wir natürlich entschlüsseln. Wenn die uns zum ersten Mal begegnen, können wir uns deren Sinn aus diesen Bestandteilen heraus erklären.
Hat sich das im Lauf der Zeit verändert? Ist es so, dass wir heute mehr begreifen, als wir vielleicht vor 50, 60, 70 Jahren verstanden haben?
Klosa-Kückelhaus Das ist eine sehr spannende Frage. Auf die weiß ich keine fundierte Antwort. Ich kenne dazu keine Untersuchung. Ich glaube, dass der Wortschatz sich insgesamt enorm erweitert hat, auch durch die Globalisierung, durch den intensiven Kontakt mit anderen Sprachen, durch das Wachstum und den Fortschritt in den Wissenschaften; auch durch Phänomene wie digitale Medien. Aber Sie merken schon: Das hängt sehr vom Individuum ab.
Inwiefern?
Klosa-Kückelhaus Es kann auch heute noch Menschen geben, die wenig Medien konsumieren. Die kommen nicht unbedingt in Kontakt mit für sie noch neuem Wortschatz. Wenn man seinen eigenen Wortschatz gerne erweitern möchte, wenn man da aktiv dran arbeiten möchte, dann kann man das vor allem tun, indem man sehr viel liest und hört. Wenn man das nicht macht, dann bleibt man in seinem allgemeinen Wortschatz. Der ist aber völlig in Ordnung, der ist ausreichend, um ein gutes Leben zu führen, um sich verständigen zu können mit seiner Familie, seinen Freunden, den Kollegen. Da gibt es eigentlich kein Problem.
Benutzen wir bestimmte Signalwörter, um anzuzeigen, dass wir zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht gehören oder eine bestimmte politische Einstellung haben?
Klosa-Kückelhaus Ganz sicher. Das Phänomen, dass Menschen bewusst Fremdwörter verwenden, um ihren akademischen Hintergrund zu betonen, hat wahrscheinlich jeder schon mal erlebt. Genauso wie man auch bewusst, um auf die Jugendsprache zurückzukommen, hier und da solche Termini verwendet, um vielleicht zu signalisieren: Ich bin am Puls der Zeit, ich bin noch gar nicht so alt, wie ich aussehe. In der Werbung wird das zum Beispiel auch gezielt gemacht.
Man wanzt sich ran.
Klosa-Kückelhaus In gewisser Weise. Das kann natürlich einen guten kommunikativen Zweck haben, aber so wie Sie es gesagt haben, klingt es eigentlich recht negativ, wenn es so was Anbiederndes hat oder etwas Angeberisches oder gar, wie Sie auch gesagt haben, etwas Ausschließendes. Wenn man zum Beispiel viel mit Anglizismen arbeiten würde in einem Kontext, in dem man weiß, dass viele Menschen sie gar nicht verstehen, dann schließt man die bewusst aus. Und das, finde ich, ist nicht gut. Sprache soll immer dazu dienen, dass man dem anderen verständlich etwas mitteilt und den möchte man auch verstehen.
Im Moment diskutieren wir nicht nur über Anglizismen, sondern vor allem über Wörter, die man nicht mehr verwenden soll - wie das N-Wort. Merken Sie am Wortschatz, dass das wirklich verschwindet? Und ist das richtig so?
Klosa-Kückelhaus Man kann solche Phänomene natürlich beobachten. Man kann in großen Textkorpora über die Zeit hinweg schauen, wie häufig bestimmte Wörter verwendet oder auch nicht mehr verwendet werden und welche anderen stattdessen kommen. Dann könnte man eben nachvollziehen, dass zum Beispiel das N-Wort, das ich jetzt nicht aussprechen will, abnimmt in der Frequenz und dafür das Wort "N-Wort" selbst immer häufiger vorkommt in bestimmten Texten, vielleicht auch noch in Anführungszeichen, um das zu markieren. So was kann man immer nachvollziehen.
In unserer Arbeit am Wörterbuch müssen wir überlegen: Wie wird denn so ein Wort beschrieben? Darf man das noch in das Wörterbuch aufnehmen? Und was muss man dazu erklären - wie es eben stigmatisiert ist oder welche Besonderheiten zu beachten sind? Das stellt einen vor Herausforderungen, ähnlich wie wenn es darum geht, ob in literarischen Texten diese Wörter weiter stehen bleiben dürfen oder nicht. Da müssen sich Autoren und Verlage auch Gedanken machen.
Das ist die berühmte Pippi-Langstrumpf-Frage: Darf man den Vater von Pippi Langstrumpf in Taka-Tuka-Land verorten oder sollte man das nicht tun? Wird denn der Wortschatz gerechter dadurch, dass man Wörter verbannt und dass man sie tabuisiert oder einrahmt und in Anführungszeichen setzt?
Klosa-Kückelhaus Ich weiß gar nicht, ob man davon sprechekann, dass der Wortschatz gerecht oder ungerecht ist. Denn die Wörter an sich sind es nicht, sondern das, was wir als Sprecherinnen und Sprecher damit machen. Da denke ich, was man bemerken kann, ist, dass sich viele Menschen dieser Tatsache immer stärker bewusst werden und versuchen, entsprechend politisch korrekt oder vor allem angemessen, wenig abwertend, nicht ausgrenzend und so weiter zu sprechen.
Das bedeutet aber nicht, dass bestimmte Wörter aus dem Wortschatz für immer verschwinden werden und dass man sie dann nie mehr finden wird. Die Wörter als Wörter gibt es noch, aber ihre Verwendung verändert sich.
Auf der anderen Seite werden diejenigen, die sich dieser angemessenen Wortfindung nicht anschließen, immer radikaler in ihren Ausdrucksformen.
Klosa-Kückelhaus Das stimmt. Das kann man beobachten. Wir haben, als wir den Corona-Wortschatz untersucht haben, gesehen, dass wir eine ganze Reihe von Bezeichnungen haben für Personengruppen. "Covidiot" ist ein Beispiel, das viele kennen, aber es gibt da noch viele mehr, wo unterschiedliche Gruppierungen sich gegenseitig mit neuen Schimpfwörtern bedacht haben. Zum Beispiel die "Schlafschafe", die alles dumm mitmachen, was damals an Verordnungen entstanden ist. Demgegenüber eben die "Covidioten", die alles ablehnen und die deshalb Idioten sind. Da sieht man diese stark wertenden Ausdrücke. Das hatte mich persönlich überrascht, wie viel in diesem Bereich entstanden ist, vor allem in den sozialen Medien.
Wurden diese Wörter denn auch außerhalb von sozialen Medien genutzt?
Klosa-Kückelhaus Solche Termini haben wir jetzt nicht unbedingt in Pressesprache gefunden, oder wenn, wurden sie dort eher zitiert. Aber wenn man auf Twitter oder in anderen Kanälen geschaut hat, dann ist einem manchmal ein bisschen angst und bange geworden, mit welcher Leichtigkeit da neue diskriminierende, stark herabsetzende Wörter geschaffen werden. Aber von allen beteiligten Gruppen tatsächlich.
Tragen soziale Medien dazu bei, dass der Wortschatz an den Extremen weiter wächst?
Klosa-Kückelhaus Vielleicht ja, weil da offensichtlich eine gewisse Enthemmung vorhanden ist - dadurch, dass es nicht ganz direkt ist, sondern eher eine indirekte Kommunikation. Auch geschuldet der Kürze, die man da wählt, sodass man manches sehr überspitzt und als Hashtag verwendet. Wie so eine Spirale begegnet man mit immer neuen Dingen dem Gegenüber, bis man sich ins Extreme bewegt.
Aber wie gesagt, was davon übergeht in die Allgemeinsprache, das ist noch mal eine ganz andere Frage. Vieles bewegt sich da schon in dieser jeweiligen Blase. Wenn es in den Medien aufgegriffen wurde, dann eher zitierend.
Sie gehören ein bisschen zu den Gatekeepern: Sie gucken, was im allgemeinen Wortschatz ist. Sagen Sie bei manchen Sachen auch: Das ist so unterirdisch, das soll bei Twitter bleiben, das kommt auf keinen Fall in den Duden?
Klosa-Kückelhaus Wir entscheiden sowieso nicht, was das Duden-Wörterbuch aufnimmt. Das ist ein Verlag. Aber wir müssen das für unsere Ressourcen entscheiden. Da gilt normalerweise immer das Prinzip: Das, was in den Texten belegt ist - und zwar nicht nur in einer Quelle, zum Beispiel nur bei Twitter, in bestimmten Accounts, sondern was sich verbreitet hat, was wir in verschiedenen Quellen finden, auch über eine etwas längere Zeit hinweg.
Warum ist das so?
Klosa-Kückelhaus Ansonsten hätte man viel zu vieles an Eintagsfliegen oder eben auch sehr einseitig verwendetem Wortschatz. Da könnte man nicht sagen, dass das dann der Allgemeinwortschatz ist.
Aber bezogen auf diese Termini aus der Coronazeit haben wir dann überlegt: Müssen und sollen wir das alles aufnehmen? Welchem Zweck würden wir damit dienen? Wir würden dokumentieren, was da alles entstanden ist und wer das in welchen Kontexten verwendet hat. Und zu dem Dokumentationszweck wäre das nützlich. Und das ist unsere Aufgabe am Leibniz-Institut: forschen und dokumentieren. Wir sind keine Sprachpolizei. Ich würde uns nicht als Gatekeeper, also als Torhüter bezeichnen, sondern eher als Sammler und Aufschreiber dessen, was wir finden. Und natürlich geben wir dann auch die Informationen dazu, warum das nicht in allen Kontexten so verwendet werden kann, sondern unter welchen Bedingungen das wer wie gesagt hat.
Frau Klosa-Kückelhaus, danke für das Gespräch!