Frau Baumgart-Ochse, bevor wir über den aktuellen Konflikt sprechen, lassen Sie uns doch erst mal klären, was die Ursachen sind. Können wir sagen, was Israel eigentlich ist?
Krieg in Israel Was einer Friedensforscherin Hoffnung macht
Audio | Düsseldorf · Die jüngste Eskalation im Nahen Osten hat viele Lösungsansätze vom Papier gewischt. Die Frankfurter Friedens- und Konfliktforscherin Claudia Baumgart-Ochse erklärt, was ihr trotzdem Hoffnung macht.
Wer kämpft für welche Ziele und wie könnte es eine Lösung im seit viele Jahren schwelenden Nahost-Konflikt geben? Nach den jüngsten Ereignissen in Israel scheint es, als gäbe es keine Chance auf Gespräche oder gar Frieden. Welche Rolle spielen Nachbarstaaten und worin ist der Konflikt eigentlich begründet? Tonspur-Wissen-Host Ursula Weidenfeld im Gespräch mit Dr. Claudia Baumgart-Ochse. Sie leitet den Programmbereich III "Transnationale Politik" am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main.
Baumgart-Ochse Ja, das können wir gut sagen. Israel ist ein Staat am östlichen Mittelmeer. Der ist etwa so groß wie mein Heimatland Hessen, also ein sehr kleiner Staat. Und er ist auch ein sehr junger Staat. Er wurde erst 1948 gegründet, hat in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag.
Der historische Hintergrund der Staatsgründung reicht allerdings zurück bis ins Europa des 19. Jahrhunderts. Das 19. Jahrhundert in Europa ist die Zeit, in der die Nationalismen entstehen, die Nationalbewegungen, und auch die europäischen Juden greifen diese Idee der Nationalbewegung auf. 1897 findet in Basel dann der erste Zionistenkongress statt, das Gründungsevent der jüdischen Nationalbewegung. Da wurde dieses Ziel formuliert, in Palästina einen eigenen Staat, eine nationale Heimstatt zu haben.
Wer sind die Zionisten im 19. und 20. Jahrhundert?
Baumgart-Ochse Das ist die jüdische Nationalbewegung. Vor dem Hintergrund der europäischen Nationalismen, vor allen Dingen aber auch vor dem Hintergrund des grassierenden Antisemitismus und der ersten Pogrome in Europa, aber auch in Russland, entsteht diese jüdische Nationalbewegung. Das ist der Zionismus. Eine säkulare Bewegung, die darauf abzielt, einen Staat in Palästina zu gründen.
Und wer sind die Menschen, die dahinter stecken?
Baumgart-Ochse Da liegt am Anfang schon eine gewisse Ambivalenz, denn das sind in der Mehrzahl diese säkularen, nationalistisch gesinnten Juden, viele liberal, viele sozialistisch. Gerade wenn sie aus Osteuropa kommen, gibt es starke sozialistische und kommunistische Anteile an dieser zionistischen Bewegung.
Warum liegt da eine Ambivalenz?
Baumgart-Ochse Der Staat soll natürlich in Israel sein, da hat das jüdische Volk seine Wurzeln. Wenn Sie die hebräische Bibel heranziehen, dann ist dieser Landstrich am östlichen Mittelmeer genau die Region, in der sich die gesamte jüdische Geschichte vor der Diaspora abgespielt hat. Da gibt es schon lange eine Sehnsucht bei den europäischen orthodoxen Juden, dorthin zurückzukehren.
Aber die Orthodoxie, also die gläubigen Juden in Europa, die denken, man kann da erst hin zurück, wenn Gott selbst das einleitet. Alles andere ist Häresie. Das ist Gotteslästerung, wenn man das selbst versucht. Und da gibt es von Anfang an diese Ambivalenz. Auf der einen Seite ist Israel das Land, das mobilisiert, weil es eben als Heimat angesehen wird. Auf der anderen Seite gibt es viele gläubige orthodoxe Juden, die ablehnen, dass man das selbst herbeiführt, diese Rückkehr in das Heilige Land.
Trotzdem findet diese Rückkehr statt, vor allem im 20. Jahrhundert, vor allem auch nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Nationalsozialismus, der Shoa, also der Judenverfolgung, ziehen viele Juden notgedrungen oder auch weil sie wollen, in diesen Landstrich im östlichen Mittelmeer. Wer ist denn schon da, als die kommen?
Baumgart-Ochse Es gibt da einen berühmten Ausspruch von einigen Zionisten, der hieß: "Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land." Das stimmt natürlich nicht. Und die meisten der zionistischen Führung waren sich völlig im Klaren, dass da eine arabische Bevölkerung war. Dieser Landstrich gehörte zum Osmanischen Reich. Das Osmanische Reich ist nach dem Ersten Weltkrieg zerfallen. Dann haben die Briten nach dem Ersten Weltkrieg das Mandat übernommen, also das Mandat über Palästina. Und die hatten das inne bis 1948. Schon in den 1920 und vor allem in den 1930er Jahren gab es erste massive Spannungen zwischen den einwandernden Juden, die immer mehr wurden, und der einheimischen arabischen Bevölkerung. Da gab es Auseinandersetzungen und Aufstände, auch Aufstände gegen die britische Besatzungsmacht.
Was ist dann passiert?
Baumgart-Ochse Dann haben die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt: Wir geben das Mandat jetzt zurück. Die UN hat dann 1947 vorgeschlagen, dass man dieses Gebiet in einen arabischen und einen jüdischen Staat teilen soll. Die Führung des Jischuv, also der jüdischen Gemeinschaft in Palästina, hat befürwortet, dass man das macht. Aber die arabischen Staaten haben das abgelehnt in der entscheidenden Abstimmung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Dann kam der Tag, an dem die Briten das Land als britische Mandatsmacht verlassen haben. Das war 1948 im Mai. Am selben Tag hat David Ben-Gurion in Tel Aviv den jüdischen Staat ausgerufen. Am nächsten Tag haben die arabischen Staaten den jungen Staat Israel angegriffen. Und das ist dann der erste israelisch-arabische Krieg.
Und den hat Israel erstaunlicherweise sehr schnell und sehr eindeutig gewonnen.
Baumgart-Ochse Den hat Israel einigermaßen schnell und eindeutig gewonnen. Und vor allen Dingen hat Israel mehr Gebiete unter seine Kontrolle bringen können, als der Teilungsplan der UN von 1947 ihnen zugedacht hatte. Das heißt, das war für Israel ein sehr erfolgreicher Ausgang. Die Israelis nennen es deswegen auch den Unabhängigkeitskrieg. Für die Palästinenser hingegen wird dieser Krieg als die Nakba erinnert, also die große Katastrophe. Heute wissen wir: Es wurden ungefähr 700.000 Menschen entweder gewaltsam vertrieben oder sie sind geflüchtet. Und nur etwa 150.000 arabische Palästinenser sind in Israel verblieben.
Nachdem wir zuerst gefragt haben, was Israel ist und wer Israeli ist, müssen wir jetzt fragen: Wer ist denn Palästinenser?
Baumgart-Ochse Das ist historisch eine ganz interessante Geschichte. Ich komme wieder zurück auf das 19. Jahrhundert und den Nationalismus. Das ist ein starker Impuls, der aus Europa von den Juden aufgenommen wurde für die zionistische Bewegung. Dann beginnt die Einwanderung nach Palästina schon Ende des 19. Jahrhunderts. Aber Palästina ist zu der Zeit einfach eine Provinz des Osmanischen Reiches und dort gibt es eine einheimische arabische Bevölkerung.
Aber, so scheint zumindest der Konsens unter Historikern zu sein, es gab noch keinen palästinensischen Nationalismus zu der Zeit. Der entsteht spiegelbildlich zur jüdischen Einwanderung. Also dieses Bewusstsein: Wir sind hier eine palästinensische einheimische Bevölkerung und wir sind auch eine Nationalbewegung und wir wollen hier unsere eigene Staatlichkeit und Unabhängigkeit. Das entsteht dann erst spiegelbildlich Anfang des 20. Jahrhunderts.
Und ist dieses palästinensische Nationalbewusstsein oder dieses ethnische Bewusstsein eines, das erst durch die Gründung Israels entstanden ist?
Baumgart-Ochse Nein, schon früher. Nicht durch die Gründung Israels, sondern Anfang des 20. Jahrhunderts, vor allem dann während der britischen Mandatszeit. Da entsteht dieses palästinensische Nationalbewusstsein. Dann kommt die Gründung des Staates Israel und die Vertreibung der Palästinenser. Und natürlich hat das dazu beigetragen, dass das palästinensische Nationalgefühl immer stärker wurde und dann auch entsprechende Bewegungen entstanden sind, wie beispielsweise die Palästinensische Befreiungsorganisation und später in den 80er Jahren die Hamas, über die wir bestimmt später auch noch sprechen.
Die Palästinenser sind aber nicht in dem Gebiet geblieben oder jedenfalls viele nicht?
Baumgart-Ochse Nein. Von den 700.000 sind viele in die Nachbarländer geflohen, also vor allen Dingen nach Jordanien, nach Libanon, nach Syrien, nach Ägypten und in die Flüchtlingslager im Gazastreifen und in der West Bank, die nach dem ersten israelisch-arabischen Krieg zunächst jordanisch war. Der Gazastreifen kam unter ägyptische Kontrolle.
Welche Rolle haben die Nachbarn gespielt? Es war immer nicht nur ein israelisch-palästinensischer Konflikt, sondern die Nachbarländer haben immer stark mitgemischt.
Baumgart-Ochse Absolut. Schon im ersten israelisch-arabischen Krieg haben die Nachbarstaaten, also Ägypten, Syrien, Jordanien, Irak - vielleicht habe ich jetzt einen vergessen - Israel am Tag nach der Unabhängigkeitserklärung angegriffen. Dann gab es den Suezkrieg 1956, und dann 1967 noch einen ganz wichtigen Krieg, weil der die Grenzen neu verschiebt.
Im Juni 1967 gab es eine Truppenmobilisierung von Ägypten entlang der Grenzen. Und dann sind die Israelis zuvorgekommen mit einem sehr schnellen Krieg und haben große Teile der ägyptischen Luftwaffe und auch der syrischen Truppen zerschlagen und konnten dann die West Bank, den Gazastreifen, die Golanhöhen und den Sinai erobern und damit die Grenzen von 1948, die Waffenstillstandslinien, noch mal verschieben.
Und das gilt auf der einen Seite als Höhepunkt des Konflikts und auf der anderen Seite auch als Beginn einer Aussöhnung, die für viele wie ein Wunder war, dass man mit Ägypten zum Beispiel redet und sich einigt.
Baumgart-Ochse Für Ägypten ist der Krieg von 1973 entscheidend, der sogenannte Jom-Kippur-Krieg. Das ist ein Krieg, der für Israel sehr überraschend kam, wo auch dieser Nimbus der Unbesiegbarkeit zerbrach, weil die Ägypter und die Syrer sehr weit gekommen sind in diesem Krieg 1973.
Jom Kippur ist das Versöhnungsfest, einer der höchsten Feiertage der jüdischen Religion. Niemand hat damit gerechnet, dass an diesem Tag ein Angriff kommt.
Baumgart-Ochse Genau, das war eine vollkommene Überraschung an Jom Kippur. Das ist der höchste israelische Feiertag, der Versöhnungstag. Deswegen ist es wichtig zu wissen, dass das komplett überraschend kam. Und die Angreifer sind weit gekommen, aber die Israelis konnten das zurückschlagen.
Aber aus dieser Situation heraus ist der Friedensprozess mit Ägypten entstanden. Anwar as-Sadat, der Präsident, hat Jerusalem besucht und es gab diesen Friedensvertrag von 1979. Und 1994 dann einen Friedensvertrag auch mit Jordanien.
In den letzten Jahren hat es weitere Aussöhnungsprozesse gegeben mit anderen arabischen Staaten, und man hatte immer den Eindruck, es klappt zwar nicht mit den Palästinensern, aber schon mit den Nachbarn.
Baumgart-Ochse Es gab Anfang der 20er Jahre dieses Jahrhunderts eine Annäherung an bestimmte arabische Staaten. Es gab die Abraham-Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain. Das ist in dem Sinne kein Friedensvertrag, weil die Emirate und Bahrain nicht direkt in den Krieg involviert waren. Aber es ist ein Normalisierungsabkommen, in dem man sich wechselseitig anerkennt und die Beziehungen normalisiert. Das war ein wichtiger Prozess. Der ist sehr positiv zu erachten.
Auch die Annäherung an Saudi-Arabien war relativ weit fortgeschritten, würde ich sagen. Man weiß natürlich nicht alles, weil Diplomatie nicht öffentlich stattfindet. Aber das Problem an diesen Annäherungen war, dass die palästinensische Frage weitgehend unter den Tisch gefallen ist.
Das wollte ich gerade fragen. Wer sind denn die Verbündeten der Palästinenser, wenn Israel sich mit seinen Nachbarn, wenn nicht versöhnt, dann aber mindestens diplomatische Beziehungen aufnimmt?
Baumgart-Ochse Traditionell haben die arabischen Staaten die palästinensische Nationalbewegung immer stark unterstützt. Der Knackpunkt, warum man keinen Frieden mit Israel haben konnte, war immer diese palästinensische Frage, also diese Frage der Staatlichkeit Palästinas und die Frage der Besatzung.
Und diese neuen Abkommen, die setzten das nicht mehr als sine qua non, als absolute Bedingung für einen Friedensprozess zwischen den arabischen Staaten und Israel. Es wurde rhetorisch erwähnt, aber es war nicht im Zentrum dieser Annäherung. Die Abkommen mit den Emiraten wurden geschlossen ohne dass sich da etwas handgreiflich für Palästina geändert hätte. Und es sah so aus, als ob das mit Saudi-Arabien auch passieren würde.
Die Verbündeten Palästinas, also vor allen Dingen der Hamas, sind vor allem der Iran und Katar. Und da kommt vor allem vom Iran eine Unterstützung, die vollkommen feindselig gegenüber Israel ist.
Das hebt die Sache dann auch geopolitisch auf eine andere Ebene. Wer mit dem Iran paktiert, paktiert mit den Verbrecherstaaten, die zum Beispiel die USA ganz klar sanktionieren. Welche Rolle spielen die USA, Russland und China in diesem Konflikt im Nahen Osten?
Baumgart-Ochse Die Rolle der USA war über lange Jahre die des Vermittlers. Die USA haben sehr viele Versuche unternommen, vom Osloer Friedensprozess bis hin zur Pendeldiplomatie von John Kerry, eine Lösung für Israel und Palästina voranzubringen. Aber sie waren immer starker Unterstützer Israels, auch militärischer Unterstützer. Das sind sie auch jetzt noch. Aber natürlich haben sich Biden und vor ihm schon Obama und Trump weitgehend aus dem Nahen Osten zurückgezogen, weil sie sich mehr mit China auseinandersetzen, im asiatischen Raum mehr Präsenz zeigen wollen. Von daher ist das, was wir jetzt erleben, eher eine Rückkehr in den Nahen Osten, einfach erzwungenermaßen.
Die USA haben über die Jahre hinweg als Versöhner, als Vermittler gewirkt. Es gab Nobelpreise an Personen aller Konfliktparteien, Israel, USA, Ägypten oder den Palästinenserstaat.
Baumgart-Ochse Wenn Sie jetzt Friedensprozesse ansprechen, ist natürlich einer besonders relevant. Das ist der Osloer Friedensprozess. Der begann zunächst mit geheimen Gesprächen, die in Oslo geführt wurden zwischen Vertretern der palästinensischen und israelischen Zivilgesellschaft, Akademiker, Politiker der zweiten Reihe. Und das wurde dann auf die höhere Ebene weitergetragen. Und dann kam es 1993 zur Unterzeichnung der Prinzipienerklärung, in der sich Israel und die PLO wechselseitig als legitime Vertreter der jeweils anderen Seite anerkannt haben.
Und das war auch der Anfang der Zweistaatenlösung, die schon mal 1947 vorgeschlagen war, die damals von der arabischen Seite abgelehnt wurde und worüber es dann einen Konsens gab.
Baumgart-Ochse Das ist richtig. Der Fehler in dieser ganzen Konstruktion der Osloer Verträge war aber, dass man eine Autonomiebehörde eingesetzt hat, die nach und nach Kompetenzen zugewiesen bekommen sollte. Man hat 1995 die West Bank und den Gazastreifen in verschiedene Zonen eingeteilt, die jeweils unterschiedliche Autoritäten hatte, also die Selbstverwaltung in den A-Gebieten und B-Gebieten, während Israel weiterhin Kontrolle über die C-Gebiete hatte, wo auch die jüdischen Siedlungen sind.
Man hat aber die sogenannten Endstatus-Fragen weiter nach hinten verschoben, um sie nach und nach später zu lösen, also beispielsweise die Fragen: Wie sollen die Grenzen verlaufen? Was machen wir mit den Siedlungen? Wie ist der Status Jerusalems?
Und die sind aber nach und nach dann immer relevanter und die Probleme schlimmer geworden.
Baumgart-Ochse Nein. Die Probleme waren dieselben, aber die extremen Kräfte auf beiden Seiten haben diesen Zwischenraum genutzt, um den Friedensprozess massiv zu torpedieren. Die Hamas mit Selbstmordattentaten auf der einen Seite, aber dann auch die jüdischen Siedler. Es gab ein Massaker in Hebron, wo ein jüdischer Siedler 29 Betende in der Moschee in Hebron umgebracht hat. Es gab das Attentat auf Jitzchak Rabin, der von einem extremistischen jüdischen religiösen Siedler erschossen wurde. Und das hat den Friedensprozess komplett ins Wanken gebracht, weil die Extremisten beider Seiten diese Phase genutzt haben, um das massiv zu torpedieren.
Und wenn man auf die Extremisten in den palästinensischen Gebieten guckt, dann ist die Hamas, der extremere palästinensische politische Arm, dominierend im Gazastreifen. Das ist der Streifen am Mittelmeer zwischen Israel und Ägypten und ein ganz kleines Gebiet, in dem jetzt der bewaffnete Konflikt stattfindet. Es gibt aber auch das Westjordanland, in dem gemäßigtere Palästinenser regieren.
Baumgart-Ochse Genau. Das hängt damit zusammen, dass 2005, nachdem die zweite Intifada langsam vorbei war, Israel den Gazastreifen einseitig geräumt hat, um Fakten zu schaffen. Ariel Scharon, der damalige Ministerpräsident, wollte dem äußeren Druck für Friedensverhandlungen letztlich zuvorkommen, und hat den Gazastreifen räumen lassen. Dann wurde 2006 gewählt in Palästina. Und gewonnen hat interessanterweise die Hamas, also diese islamistische Gruppe, die als militärischer Arm der Muslimbrüder 1987 gegründet wurde und die eine ganze Geschichte von Terrorangriffen auf Israel hatte. Die wurde in den besetzten Gebieten gewählt.
Dann gab es aber einen massiven Zwist, der fast in einen Bürgerkrieg ausgeartet ist, zwischen dieser Hamas und der etwas gemäßigteren säkularen Fatah-Fraktion. Das endete damit, dass 2007 Hamas im Gazastreifen die Macht an sich gerissen hat. Und dass dann der Palästinenserpräsident Abbas im Westjordanland eine zweite Regierung eingesetzt hat.
In der Folge gibt es jetzt zwei Regierungen - zwei kleine Staaten, die beide nicht gut überleben können.
Baumgart-Ochse Und die beide nicht den offiziellen Status eines Staates haben.
Wie geht es jetzt weiter?
Baumgart-Ochse Das ist die ganz entscheidende Frage. Im Moment ist es für die israelische Seite so, dass das wirklich ein traumatisches Erlebnis ist.
Dass man auf dem eigenen Land angegriffen und überrascht wird wie bei Jom Kippur.
Baumgart-Ochse Es ist noch viel schlimmer. Es ist das größte Massaker an Juden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, seit dem Holocaust. Da wurden 1300 Menschen, Zivilisten, Soldaten, meist Juden, abgeschlachtet auf grausamste Art und noch dazu auf israelischem Staatsgebiet. Und dieser Staat Israel ist für die Juden in der Welt, nicht nur für die Israelis, dieser sichere Hafen. Und dass es den Sicherheitsbehörden nicht gelungen ist, vorab zu erkennen, dass das geplant war, und dass es ihnen nicht gelungen ist, rechtzeitig und schnell darauf zu reagieren - das ist ein nationales Trauma, dessen Ausmaß wir uns kaum vorstellen können.
Und die Antwort darauf?
Baumgart-Ochse Die Antwort darauf wird sehr hart sein. Das sehen wir jetzt schon. Israel hat den Krieg begonnen. Wir hören eine sehr martialische Rhetorik von den israelischen Offiziellen. Verteidigungsminister Yoav Galant hat davon gesprochen, dass die Israelis jetzt mit Bestien kämpfen und dass man entsprechend handeln wird. Wir werden noch schlimmere Bilder sehen. Das glaube ich auf jeden Fall. Noch hat die Bodenoffensive nicht begonnen, aber sie steht anscheinend bevor. Das wird ein vermutlich langer und sehr unschöner Krieg werden. Man kann nicht überschätzen, was das für die israelische Gesellschaft bedeutet.
Und man kann in einer solchen Situation, wenn man von außen es bespricht und kommentiert, nicht einen Pfad sehen, wie der Konflikt beendet werden kann.
Baumgart-Ochse Also, die Zwei-Staaten-Regelung ist ohnehin schon seit einigen Jahren... wie soll ich sagen?
Steht nur noch auf dem Papier.
Baumgart-Ochse Steht nur noch auf dem Papier, weil es inzwischen eine massive Investitionstätigkeit der Israelis auf besetztem Gebiet in der West Bank gegeben hat. Wir zählen mit Ostjerusalem zusammen ungefähr 700.000 jüdische Siedler in der West Bank, sehr viele in Siedlungen und noch dazu viele militärische Stützpunkte. Und gerade die C-Gebiete in der West Bank werden stark wirtschaftlich genutzt.
Die C-Gebiete sind Gebiete, die von Israel verwaltet werden, die aber nicht zu Israel gehören.
Baumgart-Ochse Genau. Wie ich vorhin erklärt habe, wurden in den Osloer-Verträgen West Bank und Gazastreifen in drei verschiedene Zonen eingeteilt. Es gibt die A- und die B-Zone, die stehen unter palästinensischer Selbstverwaltung. Die C-Zone steht nach wie vor unter israelischer Verwaltung, auch Militärverwaltung. Während trotzdem gilt, dass die Grenzen nach wie vor von Israel kontrolliert werden und dass die palästinensische Autonomiebehörde kein eigenes Militär in dem Sinne hat, sondern nur Sicherheitskräfte.
Das heißt, wir müssen schauen, wie sich die nächsten Monate entwickeln, wie Israel dieses Trauma, das, wie Sie schon gesagt haben, größer eigentlich nicht sein kann, bewältigt. Und dann wird man irgendwann wieder reden? Was heißt das für die palästinensische Zivilbevölkerung?
Baumgart-Ochse Ich habe diverse Hoffnungen. Eine Hoffnung ist, dass sich die Palästinenserinnen und Palästinenser in den besetzten Gebieten nicht diesem Hamas-Impetus anschließen, sondern ruhig bleiben und sich nicht auf diese Art von Kampf einlassen. Denn das ist nicht der Befreiungskampf Palästinas, was die Hamas da macht, das ist reiner Terror, das hilft niemandem und schon gar nicht der Zivilbevölkerung in Gaza, weil die sehenden Auges in diese Situation gebracht wurde durch die Hamas, das muss man ganz klar so sagen. Und ich hoffe sehr, dass in der Bevölkerung, vor allen Dingen in der West Bank und auch in der Führung der West Bank ein Bewusstsein davon herrscht, dass das keinem hilft und dass das auch nicht Palästina hilft.
Und welche Hoffnungen haben Sie noch?
Baumgart-Ochse Die zweite Hoffnung - und das wird eine Weile dauern, bis sich das realisieren kann - ist, dass dieser Weg der Annäherung, den Israel mit den arabischen Staaten, vor allen Dingen mit Saudi-Arabien als wichtigstem Player auf dieser Seite, dass dieser Weg weiter beschritten wird, trotz des jetzigen Konflikts, dass aber, wenn das weiter gemacht wird, die Palästinafrage zentral mit behandelt werden muss. Dass die Saudis, dass die Emirate, Katar vielleicht, dass sie diese Palästinafrage mit aufs Tapet bringen, mit an den Verhandlungstisch. Und dass es nicht weitergehen kann, wenn man nicht auch diese Frage behandelt.
Wie wahrscheinlich ist es denn, dass das passiert?
Baumgart-Ochse Israel hat ein großes Interesse daran, dass diese Annäherung passiert. Ökonomisches Interesse, sicherheitspolitisches Interesse, als Gegengewicht zum Iran. Auch die Saudis und die anderen haben ein großes Interesse. Israel ist ein Hightech-Land, da hat man viel davon, wenn man wirtschaftlich kooperiert. Das heißt, das Interesse ist groß, aber die palästinensische Frage muss ins Zentrum rücken, muss behandelt werden. Und dann sehe ich da eine kleine Chance.
Welchen Grund sollten die Nachbarn haben, jetzt stärker auf die Palästinenser zu gucken? Wir sehen, dass die Solidaritätsbekundungen mit Palästina zwar da sind, aber nicht besonders leidenschaftlich klingen.
Baumgart-Ochse Ich meine, wenn wir jetzt darüber sprechen, was eigentlich zu diesem Angriff geführt hat, gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Niemand kann in die Köpfe der Hamas gucken, aber sicherlich war ein Grund, dass man diese Annäherung verhindern wollte. Wenn die Saudis, wenn die Emirate, wenn die anderen Golfstaaten diese Annäherung wollen aus den eben genannten Gründen - ökonomisch, sicherheitspolitisch -, dann ist jetzt nach diesem Angriff vollkommen klar, dass man auch über Palästina sprechen muss. Und das wäre das Interesse, das sie haben könnten, um diese Annäherung zu bewerkstelligen. Dass man dafür offensichtlich, wie man jetzt sieht, über Palästina nicht so hinweggehen kann, sondern dass das immer wieder aufflammen wird, dass das immer wieder hochkochen wird und wir kein Ende sehen werden, immer wieder Eskalationen sehen werden, wenn wir dieses Problem nicht lösen.
Und sehen das die USA und Europa auch so?
Baumgart-Ochse Ich hatte den Eindruck, dass die USA das auch so sehen. Gut, wir hatten natürlich Trump an der Macht, der nach eigenen Worten den "Deal des Jahrhunderts" geplant hat, der im Grunde eine Art ökonomisches Trostpflaster für die Palästinenser vorsah, aber auch weitreichende Annexionen von Gebieten in der West Bank für die Israelis und da ein bisschen eine ökonomische Linie fahren wollte, ohne aber die Rechte auf Unabhängigkeit, auf nationale Selbstbestimmung der Palästinenser ernst zu nehmen. Und das hat auch nicht gefruchtet. Biden hat sich, wie gesagt, weitgehend aus Nahost rausgehalten. Wie sich das jetzt wendet, muss man sehen. Ich glaube, das ist erst mal offen, wie sich die Amerikaner da positionieren, zumal auch Wahlkampf ist und sie sehr viele eigene Probleme haben.
Das heißt, am Steuerrad einer möglichen halbwegs friedlichen Weiterentwicklung stehen die Nachbarstaaten Israels, die ein Interesse an Aussöhnung haben, und Israel selbst, das mit den Nachbarstaaten auf guten Fuß kommen will.
Baumgart-Ochse Das ist genau so. Aber auch das wird erst möglich sein, wenn die Netanjahu-Regierung nicht mehr ist, glaube ich. Denn wir müssen sehen, dass Netanjahu in seiner Regierung Koalitionspartner hat, die offen die Annexion der West Bank gefordert haben. Das sind diese religiös extremistischen Koalitionäre. Er hat Minister, die auch praktisch die Planung für die Annexion begonnen haben. Bezalel Smotrich, Itamar Ben-Gvir sind die Namen, die einem da einfallen. Das heißt, mit dieser Koalition, wie sie jetzt ist - im Moment gibt es ja parallel noch das Kriegskabinett, dem auch Führer der Opposition angehören - aber von dieser Regierung Netanjahus wird man keinen Fortschritt erwarten können. Das heißt, es müsste auch in Israel einen Wechsel geben. Aber ich glaube nicht, dass Netanjahu das politisch überleben wird, weil die israelische Gesellschaft ihm dieses Versagen der Sicherheitsbehörden am 7. Oktober lange nachtragen wird.
Frau Baumgart-Ochse, vielen Dank.
Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Fassung der Podcast-Episode, die wir veröffentlicht haben, war ca. in Minute 18 ein inhaltlicher Versprecher. Diesen haben wir nachträglich korrigiert. (19.10.23 / 23.20 Uhr) Wir bitten um Entschuldigung.