Wissensdrang Wie sich eine Gesellschaft moralisch selbst täuschen kann

Meinung | Bochum · Was als anständig gilt, hängt vom historischen Kontext ab. Das hat Konsequenzen für die Grausamkeit im Ukraine-Krieg aber auch für das, was wir heute für rassistisch oder sexistisch halten.

 Zahlreiche Menschen und zwei Straßenkünstler in Micky Maus-Kostümen in einer Einkaufsstraße. (Symbolfoto)

Zahlreiche Menschen und zwei Straßenkünstler in Micky Maus-Kostümen in einer Einkaufsstraße. (Symbolfoto)

Foto: dpa/Frank Rumpenhorst

Wie kann es dazu kommen – wie wir es derzeit in Russland beobachten -, dass ein Verhalten als akzeptabel gilt, das noch vor einigen Jahren als unmenschlich wahrgenommen worden wäre? Wir kennen das auch aus der deutschen Vergangenheit. Wie kommen solche kollektiven moralischen Selbsttäuschungen zustande?

Hier hilft ein Vergleich mit der Wahrnehmungspsychologie weiter: Bestimmte Wahrnehmungen, etwa von Farben, sind abhängig davon, was wir sonst noch sehen. Das gilt auch für moralische Einschätzungen: In welchem Maße ein Verhalten als unmoralisch gilt, hängt davon ab, welche anderen Verhaltensweisen die Menschen auf dem Schirm haben. Wenn etwa gewalttätige antisemitische Übergriffe zunehmen, die vorher als inakzeptabel oder gar verbrecherisch galten, werden schwächere Fälle von Diskriminierungen in der Öffentlichkeit auf weniger Ablehnung stoßen.

Diese Kontextabhängigkeit der moralischen Wahrnehmung zeigt sich auch bei Entwicklungen in die Gegenrichtung. Wenn in einem kulturellen Umfeld zunächst krasse Formen sexueller Belästigung bis hin zur Vergewaltigung von Frauen weit verbreitet sind und als normales männliches Verhalten gelten, werden weniger krasse Formen wie Betätscheln und anzügliche Witze als harmlos erscheinen. Wenn jedoch die schlimmsten Übergriffe zurückgehen oder durch ein neues Gesetz verboten werden, werden solche schwächeren Formen sexueller Belästigung als viel schlimmer wahrgenommen als vorher.

Diese Verschiebung der moralischen Bewertung hat Konsequenzen für die Selbstwahrnehmung einer Kultur: Eine Gesellschaft kann nicht nur durch die Normalisierung des Verbrecherischen, sondern auch durch ihren eigenen moralischen Fortschritt verblendet werden. Wenn sie ernsthafte Fortschritte bei einem Problem wie Rassismus oder Sexismus gemacht hat, glauben viele gerade deswegen, dass die Dinge schlimmer geworden sind, weil jetzt viel mehr Verhaltensweisen in den Fokus geraten, die als besonders übel empfunden werden.

Unsere Autorin ist Philosophie-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.

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