Der Westen beendet seine Forschungszusammenarbeit mit Russland. Eine der ersten Reaktionen dazu kam vom Chef der russischen Raumfahrtbehörde auf Twitter: „Wer rettet die ISS vor einem unkontrollierten Abstieg aus der Umlaufbahn und einem Absturz auf US-Territorium oder Europa?“ Müssen wir uns Sorgen machen?
Kooperation in Kriegszeiten „Ein ISS-Absturz käme einer Sabotage gleich“
Interview · Die westliche Welt hat die Zusammenarbeit mit Russland weitgehend eingestellt. Was bedeutet das für Wissenschafts-Kooperationen wie die Internationale Raumstation ISS? Fragen an Matthias Kleiner, den Präsidenten der Leibniz-Gemeinschaft.
Matthias Kleiner Ich glaube nicht, dass wir uns im Moment Sorgen machen müssen. Zunächst zeigt diese Reaktion, wie eng Wissenschaft international verwoben ist. Und sie zeigt auch, wie Wissenschaft und Technologie als politische Mittel eingesetzt werden.
Auf der ISS bewirtschaften unterschiedliche Nationen verschiedene Module. Die Amerikaner sorgen zum Beispiel für die Energieversorgung. Die Russen passen auf, dass die ISS nicht aus der Umlaufbahn gerät. Wenn das jetzt nicht mehr passieren würde, würde die ISS dann nicht abstürzen?
Kleiner Technisch gesehen könnte das passieren, ja. Aber ich kann mir das ehrlich gesagt nicht vorstellen. Die ISS hat eine enorme Symbolkraft für die internationale Wissenschaftskooperation. Ein solcher Absturz käme einer Sabotage gleich. Das hätte auch nach innen eine Wirkung, die man in Russland derzeit sicher nicht haben möchte.
Die ISS steht für eine Idee: Auch wenn man sich auf der Erde nicht gut versteht, kooperiert man im Weltraum. Und ist voneinander abhängig. Im Herbst sollte eigentlich der Mars-Rover „Rosalind Franklin“ auf den Weg gebracht werden. Das wird wohl kaum passieren. Was bedeutet es für die Forschung, wenn ein Projekt mit einem so irrsinnigen Vorlauf einfach gestoppt wird?
Kleiner Das ist in jedem Fall ein herber Rückschlag, sowohl für die internationale wissenschaftliche Kooperation als auch für die Erkenntnis. Aber ich glaube auch, dass wir im Moment an der ein oder andere Stelle konsequent sein müssen. Als der Krieg gegen die Ukraine begann, habe ich sofort die Direktorinnen und Direktoren der Leibniz-Institute angeschrieben. Ich habe sie darum gebeten, rasch zu prüfen, welche Kooperationen es mit staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen auf russischer Seite gibt, und diese dann auf Eis zu legen. Wir dürfen die Entscheidungen über Sanktionen nicht nur der Politik und der Wirtschaft überlassen. Wir müssen selbst überprüfen, wo Sanktionen sinnvoll sind. Sanktionen, die sich natürlich nicht gegen die Menschen, sondern gegen Institutionen richten, von denen viele sehr staatsnah sind.
Kann man Menschen und Institutionen so leicht trennen? Nehmen Sie die gemeinsame Arktis-Forschung zum Klimawandel und die Konsequenzen für die Menschheit. Müsste man in einem solchen Fall nicht sagen: Dieses globale Problem ist so groß und drängend, dass man die Forschung trotz Kriegs weiterführen muss?
Kleiner Ja, da haben Sie recht. Wobei es an dieser Stelle weitaus drastischer ist, dass die Umsetzung der Maßnahmen, unser Klima zu retten, schon vorher ins Stocken geraten ist. Und wir müssen ja auch ein Stück weit optimistisch bleiben, dass die Sanktionen nicht auf immer und ewig aufrecht erhalten werden, sondern dass wir an unsere Kooperationen wieder anknüpfen können. Ich halte es auch für wichtig, in die wissenschaftlichen Communities in Russland hineinzutragen, was derzeit passiert. Wir erleben, dass eine objektive Berichterstattung in Russland überhaupt nicht mehr möglich ist, weder durch russische noch durch internationale Medien. Wie also sollen Forschende und Studierende an Informationen kommen, die wissen wollen, was los ist? Die sich fragen, wieso die Zusammenarbeit mit ihren Studiengängen abgebrochen wurde? Ich bin Mitglied der Russischen Akademie der Ingenieurwissenschaften. Ich habe an den Präsidenten der Akademie geschrieben, mit der Aufforderung, ein Statement gegen den Krieg zu beschließen. Solange die Akademie das nicht tut, ruht meine Mitgliedschaft.
Das ist natürlich einerseits ein wichtiges Zeichen. Andererseits pocht die Wissenschaft auf die Forschungsfreiheit und auf ihre Unabhängigkeit von der Politik. Gerade in Ihrem Bereich, also in den Naturwissenschaften, im Maschinenbau oder in der Physik, spielt die Zusammenarbeit mit Osteuropa eine große Rolle. Ist da nicht eine freiwillige Selbstbeschränkung im Spiel, die viel länger dauern könnte, als Sie heute denken?
Kleiner Sie haben es ja selbst gesagt: Es ist eine freiwillige Selbstbeschränkung. Indem wir Kooperationen einstellen, führen wir aber auch unsere Wissenschaftsfreiheit aus. Und auf der individuellen Ebene muss man ja auch ein bisschen aufpassen, dass man nicht gegen nationale und europäische Außen- und Wirtschaftsgesetze und andere Regeln verstößt. Es gibt schon länger Sanktionen, die alle Güter betreffen, die sowohl technisch als militärisch benutzt werden können. Solche Regeln sind jetzt noch einmal strikter geworden. Man muss sich also darüber im Klaren sein, dass schon ein wissenschaftlicher Austausch via E-Mail, Telefon oder Videokonferenz unter diesen Rahmenbedingungen strafbar sein kann.
Aber ist es richtig, dass US-amerikanische Journale keine Aufsätze mehr aus Russland annehmen? Ist es richtig, dass man bei der Teilchenphysik, also bei der Grundlagenforschung, jede Form von Austausch beendet?
Kleiner Es ist natürlich diskutabel, wie weit man da gehen sollte. Aber ich glaube schon, dass wir als Leibniz-Gemeinschaft, die für sich in Anspruch nimmt, in der Gesellschaft für die Gesellschaft zu forschen und auch Teil dieser Gesellschaft zu sein, uns genau überlegen müssen: Was ist eigentlich unsere gesellschaftliche Rolle in einer Kriegssituation? Wie weit geht unsere Verantwortung als Wissenschaftler, wie weit als Bürger, etwas beizutragen? Damit auch einem Aggressor wie Russland und auch der russischen Gesellschaft klar wird, dass das, was da gerade passiert, Unrecht und mörderisch ist und gegen das Völkerrecht verstößt. Und dass es jeden und jede auf dieser Welt betrifft. Wir haben auch eine Verantwortung gegenüber den tausenden Kolleginnen und Kollegen, die so mutig waren, einen Offenen Brief gegen den Krieg zu unterzeichnen, darunter sehr prominente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Russland. Die unterstützen wir ja auch, indem wir Sanktionen ergreifen.
Was ist mit den Studierenden, die Stipendien bekommen haben, die sich um den Austausch bemüht haben? Die stehen jetzt womöglich ohne Geld und Unterstützung da.
Kleiner Na ja, das ist nochmal etwas anderes. Wir haben sehr schnell einen Hilfsfonds aufgelegt, der Maßnahmen der Institute ergänzen soll. Das ist ein Matching-Fonds, 50 Prozent aus der Leibniz-Gemeinschaft, 50 Prozent aus den Leibniz-Instituten. So steht jetzt sehr kurzfristig rund eine Million Euro für Hilfsmaßnahmen zur Verfügung. Sowohl für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Ukraine, die in Deutschland sind oder jetzt nach Deutschland flüchten, als auch für russische Forschende und Studierende, die mit einem Stipendium hier sind und auf Grund der politischen Situation nicht zurück können. Da machen wir natürlich keinen Unterschied.
Die Fragen stellte Ursula Weidenfeld. Protokolliert von Alexandra Eul.