Wir müssen mit Risiken leben lernen

Interview Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer, 63, ist Psychologe und seit 1997 Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Ein Gespräch über Angst vor EHEC-Sprossen und Atomstrahlen und die Frage, warum die Deutschen sich so gerne fürchten.

Essen Sie noch Rohkost?

Gigerenzer Ich habe heute Tomaten gegessen.

Leiden die Rohkostverweigerer also an übertriebener Angst?

Gigerenzer Gut möglich, zumal man ja gar nicht weiß, woher der EHEC-Erreger kommt. Sicher ist, dass das Verhalten der Verbraucher in diesen Tagen manche Bauern in den Ruin treibt, obgleich sich die Hypothesen über die EHEC-Herkunft ja ständig ändern.

Aber genau das schürt ja die Angst. Solange man nicht weiß, welches Gemüse einen krank macht, isst man doch lieber gar keins.

Gigerenzer Ja, aber nichts ist sicher außer dem Tod und den Steuern. Man muss nur mal all die Krisen der vergangenen Jahre rekapitulieren: Schweinegrippe, Vogelgrippe, BSE, Sars und was noch alles dazwischen lag – die typische Panik dauerte sechs bis neun Monate, dann haben wir alles wieder vergessen. Die Angst hält also ungefähr so lange an, wie die Medien darüber berichten, und das wird mit EHEC wohl auch wieder so sein.

Das würde aber heißen, Angst sei ein reines Medienphänomen.

Gigerenzer Nein, nicht nur. Es gibt Phänomene, die extrem Angst auslösend sind. Zum Beispiel Katastrophen – Ereignisse, bei denen zu einem Zeitpunkt besonders viele Menschen sterben, etwa der 11. September 2001. Oder vorgestellte Katastrophen wie die Vogelgrippe – es gab in Deutschland, wie auch bei BSE und Sars, keinen einzigen Toten. Mit anderen Situationen kann man dagegen kaum Angst schüren, obwohl bei ihnen genauso viele Menschen oder sogar mehr sterben, aber verteilt über das ganze Jahr, wie beim Auto- oder Motorradfahren. Nur wenige Deutsche haben Angst, wenn sie ins Auto steigen. Oder schnell mal eine Zigarette rauchen.

Sie sprechen jetzt von der Angstmache – es gibt aber doch etwa bei EHEC eine reale Gefahr.

Gigerenzer Ja, das stimmt. Auch die Schweinegrippe war gefährlich, aber sie ist nicht eine solche Katastrophe geworden, wie es die Weltgesundheitsorganisation vorhergesagt hat. Im April 2009 schätzte die WHO, dass es weltweit bis zu zwei Milliarden Infizierte geben würde. Im Oktober 2009 sagte der Vertreter der niedersächsischen Gesellschaft für Impfwesen und Infektionsschutz allein für Deutschland 25 000 bis 35 000 Tote vorher. Gleichzeitig sterben jedes Jahr um die 10 000 Menschen tatsächlich an der herkömmlichen Grippe. An diese Menschen dachte kaum jemand.

Also nicht aufregen, nach dem Motto: trifft mich schon nicht?

Gigerenzer Nein, das Kernproblem in Deutschland ist, dass wir aus all diesen Paniken kaum etwas lernen. Wir regen uns auf, aber dann vergessen wir die Aufregung wieder.

Wie kann man das verhindern?

Gigerenzer Das beste Mittel gegen Panik ist, sich klarzumachen, was die wirklichen Gefahren im eigenen Leben sind, jene, die einen tatsächlich das Leben kosten könnten. Das ist so gut wie sicher nicht EHEC.

Also sollten wir ruhig Sprossen essen, aber nicht aufs Motorrad steigen?

Gigerenzer Zum Beispiel. Oder nicht zur Zigarette zu greifen. Man schätzt, dass ein Drittel aller Krebserkrankungen durch Rauchen verursacht wird und zwei Drittel aller Krebsfälle durch ungesundes Verhalten, etwa falsche Ernährung, Bewegungsmangel, Alkoholismus. Das hat man selbst in der Hand.

Angst vor den wirklich gefährlichen Dingen ist also durchaus nützlich?

Gigerenzer Natürlich, wir brauchen Angst, um gefährliche Situationen zu vermeiden. Nur fürchten wir uns kaum vor Gefahren, die uns mit hoher Wahrscheinlichkeit wirklich töten, sondern vor jenen, denen nur relativ wenige zum Opfer fallen.

Es gibt ja auch den Begriff der "German Angst". Neigen die Deutschen besonders zur Panik?

Gigerenzer Ich habe lange in den USA gelebt. Es gibt ein paar deutsche Begriffe im Amerikanischen, wie Weltschmerz, Schadenfreude und Angst. Wir dagegen haben amerikanische Begriffe übernommen, die meist positiv besetzt sind – von Computer bis Rockmusic. Das ist doch bemerkenswert. Es ist natürlich nur zum Teil richtig, dass wir Deutschen überängstlich sind. Wahr ist aber, dass jede Nation spezifische Ängste hat. Das Objekt der Angst ist unterschiedlich. In England etwa besteht seit vielen Jahren enorme Angst vor Kinderimpfung gegen Mumps, Masern und Röteln.

Gibt es in Deutschland auch.

Gigerenzer Ja, aber längst nicht so massiv wie in England, wo man sogar fürchtet, dass Impfungen Autismus auslösen könnten. Dafür haben wir Deutsche Angst vor Strahlen, die kennen wiederum die Franzosen kaum.

Aus Ängsten in der Bevölkerung werden auch schon mal politische Entscheidungen. Dürfen sich Politiker von Gefühlen leiten lassen?

Gigerenzer Natürlich dürfen Politiker Gefühle haben und zeigen. Bei EHEC etwa werden viel mehr Unsicherheiten zugegeben als bei vorherigen Krisen. Das halte ich für einen Fortschritt. Es ist gut, wenn Politiker offen sagen, wir wissen noch nicht, woher der Erreger stammt.

Ist es auch richtig, wenn Sie vor Gurken warnen, obwohl sie deren Gefährlichkeit noch nicht genau kennen?

Gigerenzer Wenn man auf Gurken Keime findet, sollte man das sagen. Aber auch dazu sagen, dass man nicht weiß, wie die Erreger dorthin gekommen sind. Und man sollte klarstellen, wie groß die Gefahr der Erkrankung tatsächlich ist – verglichen mit den vielen anderen Gefahren, mit denen wir täglich leben.

Aber ein Minister kann sich in EHEC-Zeiten kaum vor die Kameras stellen und vorm Motorradfahren warnen.

Gigerenzer Warum nicht? Es hat ja wenig Sinn, sich nur vor einer Sache zu ängstigen und für alles andere blind zu werden. Etwa nur die Gefahren der Atomkraft zu sehen und jene von Kohlekraftwerken auszublenden. Zum Beispiel die Folgen für die Erderwärmung. Wir brauchen offene Augen, statt uns von den Medien von einer Angst in die andere treiben zu lassen. Darum nenne ich Ihnen die ganze Zeit so viele Vergleiche.

War der Atomausstieg Ihrer Meinung nach eine Kurzschlussreaktion?

Gigerenzer Es ist sicher sinnvoll, Energiequellen abzubauen, die große, auch unkalkulierbare Gefahren mit sich bringen. Aber dann muss man sich die anderen Energiequellen anschauen und auch wahrnehmen, dass viele Menschen durch Kohle, Öl und deren Konsequenzen sterben.

Haben die Deutschen auch so viel Angst vor Strahlen und Keimen, weil das unsichtbare Gefahren sind?

Gigerenzer Nein, das wird immer so behauptet, aber dann müssten die Franzosen und die Spanier genauso viel Angst vor Strahlen haben wie wir. Haben sie aber nicht.

Wieso gibt es diese Unterschiede?

Gigerenzer Weil Angst sozial gelernt wird. Würde sie auf eigener Erfahrung beruhen, dann hätten die Japaner besonders große Angst vor der Atomkraft haben müssen. Hatten sie aber nicht. Man hat Angst vor den Dingen, vor denen Freunde und die Gesellschaft Angst haben.

Man könnte allerdings auch sagen, dass die Japaner besser ein wenig mehr Angst vor Strahlen entwickelt hätten, dann hätten sie ihre Kraftwerke vielleicht nicht an die Küste gebaut.

Gigerenzer Ja. Man muss aber auch sehen, dass in Japan über 10 000 Menschen durch das Erdbeben und den Tsunami gestorben sind. Das war ein immenses Unglück, aber wir reden in Deutschland fast nur über die Strahlen.

Wir reden über das, was uns auch treffen könnte. Einen Tsunami müssen wir hier nicht fürchten.

Gigerenzer Das ist richtig. Aber gestorben sind die Menschen durch den Tsunami, und wir tun ein bisschen so, als sei dort alleine ein Atomkraftwerk explodiert.

Würden Sie Ulrich Beck zustimmen, der in "Risikogesellschaft" geschrieben hat, es gehe in der technisierten Gesellschaft nicht mehr um Reichtums-, sondern um Risikoverteilung?

Gigerenzer Dieses Buch liegt mir nicht. Nicht weil ich etwas gegen Ulrich Beck hätte, sondern weil das Buch so verstanden werden kann, als ob die rasante technische Entwicklung im 20. Jahrhundert die Welt immer unsicherer gemacht hätte. Dagegen leben wir heute länger, die Kindersterblichkeit ist geringer, unser Leben ist in vieler Hinsicht sicherer als je zuvor. Ich denke: Neue Technologien werden uns verändern, unser Denken, Fühlen und soziales Leben. Das Internet und andere digitale Medien tun dies bereits. Sie bringen Risiken, aber auch Chancen. Ich habe eine positivere Vision als die so genannte Risikogesellschaft – nämlich eine risiko-kompetente Gesellschaft, die mit Risiken umgehen kann. Eine solche Gesellschaft werden wir allerdings nicht bekommen, wenn wir immer nur Ängste schüren.

(RP)
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