Halle Willi Sitte – DDR-Staatskünstler und Rebell

Halle · 92-jährig ist der Maler in Halle gestorben. Er zählte zu den prominentesten Künstlern der DDR. Vor allem als Kulturfunktionär rief er Kritiker auf den Plan. Denn Kunst hatte aus seiner Sicht stets dem Sozialismus zu dienen.

Bis zum Untergang der DDR sprach man hierzulande scherzhaft von der Viererbande, wenn man das künstlerische Quartett meinte, das im "zweiten deutschen Staat" den Ton angab und dessen Bilder bald auch in der Bundesrepublik Neugier weckten. Nach Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke und Bernhard Heisig ist nun der Letzte der vier nach langer Krankheit 92-jährig in seinem Haus in Halle gestorben: Willi Sitte.

Blättert man noch einmal in einem Katalog, der die DDR-Kunst-Schau "Zeitvergleich" zu Beginn der 80er Jahre durch sechs westdeutsche Städte begleitete, darunter Düsseldorf, dann fällt einem erneut das Merkwürdige dieser Kunst auf. Während sich im Westen die Ungegenständlichkeit längst einen Platz in der Gegenwartskunst erobert hatte und die Jungen Wilden einen neuen Akzent setzten, propagierte die DDR eine Kunst, die an Guttuso und Picasso, an Kokoschka und Corinth anknüpfte und peinlich darauf bedacht war, den Bezirk des Figürlichen so wenig zu verlassen wie den des Gesellschaftlichen.

Sitte steckte den Bereich dessen, was in der DDR möglich sein sollte, nicht nur in seiner Eigenschaft als Volkskammer-Abgeordneter, Mitglied des Zentralkomitees der SED und Präsident des Verbands Bildender Künstler ab; er lieferte auch Vor-Bilder. Im "Zeitvergleich" erstreckte sich sein Repertoire von einem Bild, das die "Hochwasserkatastrophe am Po" (1952/53) ins Symbolische überhöhte, über die Darstellung eines Massakers (1959) bis zu jenen farbkräftig fleckigen Gemälden, die ihm der Aachener Sammler Peter Ludwig so gerne abkaufte. Als massige Figur tritt dem Betrachter ein "Chemiearbeiter am Schaltpult" (1968) entgegen. Später, in den 80er Jahren, verlegte Sitte sich auf gleichfalls massige, jetzt aber nackte, dabei ganz und gar unerotische Gestalten. Die "Drei Grazien in Vitrine" sind alles andere als grazil, und das "Liebespaar zwischen Minotaurus und Tod" ist ein einziges Fleisch-Knäuel.

Sittes Kunst wirkt roh, dabei in Maßen modern, und mancher mag sich darüber gewundert haben, dass ausgerechnet die piefige DDR sich mit solchen Bildern schmückte. In der Tat war dieser Art der Repräsentation eine lange, auseinandersetzungsreiche Zeit vorausgegangen. Vom "Bitterfelder Weg", auf dem vom Ende der 50er Jahre an Künstler mit Laien zusammenarbeiteten, um Arbeiterkunst hervorzubringen, wichen die Kulturfunktionäre der DDR bald ab. Vor allem Schriftsteller hatten sich dagegen gewehrt, dass Kunst zum bloßen Mittel der Propaganda verkommt. Außerdem schien der überlieferte Realismus nicht mehr geeignet zu sein, das Publikum für Fragen des Sozialismus zu gewinnen.

Das war die Stunde Willi Sittes und seiner Kampfgenossen. Bei kommunistischen Meistern der klassischen Moderne wie Picasso und Guttuso fand er die stilistischen Mittel, mit denen man Kunst wieder attraktiv machen konnte.

Sitte war keineswegs von vornherein der DDR-Staatskünstler, als den man ihn in späteren Jahren kannte. Vielmehr begann sein Weg mit Rebellion. Aus der Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei im Eifel-Städtchen Kronenburg, in die ihn ein Fabrikant vermittelt hatte, wurde er ausgeschlossen, nachdem er sich kritisch über die Wehrmacht geäußert hatte. Ihr musste er sich daraufhin anschließen, doch 1945 desertierte er zu den italienischen Partisanen.

Als Sitte 1959/1960 in seinem Triptychon "Lidice" die Zerstörung des tschechischen Dorfs durch die Deutschen im Jahr 1942 festhielt, eckte er damit bei den Kulturfunktionären der DDR an. Und als das Werk in einer Gedenkstätte in Lidice ausgestellt werden sollte, ging es auf dem Transport auf ungeklärte Weise verloren.

Sitte setzte sich für eine sozialistische Kunst ein, die sich von derjenigen des großen Bruders Sowjetunion unterschied. Während die Malerei dort Traktoristen verherrlichte, Bäuerinnen einen Kranz flocht und das hereinbrechende Zeitalter der Technisierung feierte, bahnte Sitte einer reflektierenden Kunst den Weg. So trug er dazu bei, dass Kunst in der DDR nach dem Abweichen vom Bitterfelder Weg nicht mehr vordergründig propagandistischen Zielen diente, sondern als Mittel der Verständigung zwischen den Genossen. Ein Bild – das stand dahinter – soll wie die Literatur den Menschen einen Ort eröffnen, an dem sie sich über die Unzulänglichkeiten des Sozialismus ebenso austauschen können wie über ihre persönlichen Freuden und Nöte.

Als die DDR kurz vor dem Zusammenbruch stand und niemand mehr nach dieser Art von Kunst fragte, als zudem Heisig und Tübke ihre Nationalpreise zurückgaben, blieb Sitte der DDR verbunden, selbst über deren Ende hinaus. Gerüchte machten die Runde, er habe für die Stasi gearbeitet, sinnigerweise als Geheimer Informator "Guttuso"; eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg wurde daraufhin abgesagt, Sitte zog sich zurück – bis 2006 eine Sitte-Galerie in Merseburg sein Werk zu pflegen und betreuen begann.

Museen im Westen Deutschlands dagegen ignorieren ihn nach wie vor. Selbst im Kölner Museum Ludwig, das immerhin nach dem bedeutendsten Sammler von DDR-Kunst benannt ist, spielt der Name Sitte seit je keine Rolle. Die Oberhausener Ludwig-Galerie trennte sich vor vier Jahren von ihrem gesamten Bestand an DDR-Kunst.

Warum der Westen sich so wenig für Sitte interessiert? Wohl deshalb, weil seine Kunst den internationalen Strömungen hoffnungslos hinterherhinkte und nur im abgeschotteten Biotop DDR eine Lebens-Chance hatte. Und bei den Sammlern aus dem Westen, die DDR-Kunst immerhin exotisch fanden.

(RP)
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