Reisen Wer sich früher freut, hat länger Urlaub

Düsseldorf · Die Aussicht, in Kürze in die Ferien zu fahren oder einfach frei zu haben, gibt vielen Menschen Gelassenheit. Ein Lob der Vorfreude.

Reisen: Wer sich früher freut, hat länger Urlaub
Foto: Radowski

Verzeihung, aber ich wollte einfach mal sagen, wie sehr ich das Gefühl der Vorfreude mag. Ungefähr sechs Wochen vor dem Sommerurlaub stellt es sich ein, es kündigt sich mit einem Ziehen im Bauch an, mit krausen Gedanken und damit, dass ich lächeln muss, obwohl gerade niemand im Raum ist, der etwas Lustiges erzählt hätte.

Wer sich vorfreut, surft auf einem Gedankenstrich durch den Alltag, seine Zukunft hat sich in die Gegenwart verlängert. Der Volksmund, der ja ziemlich schlau ist, weiß das schon lange. "Vorfreude ist die schönste Freude", heißt es, und Wissenschaftler von der University of California haben neulich versucht, diese Behauptung zu belegen. Sie haben ihren Probanden in Aussicht gestellt, ihren liebsten Filmstar küssen zu dürfen, und zwar entweder a) jetzt sofort oder b) in drei Tagen. Die allermeisten entschieden sich für Möglichkeit b), weil sie wussten, dass sie dann viel mehr von dem Ereignis haben würden: Drei Tage Vorfreude sind besser als drei Jahre Erinnerung.

Wer nun also im Büro sitzt und sich mit halb herabgelassenen Lidern auf den Badeurlaub freut, sieht die Welt, von imaginärem Chlorsommer-Dunst berauscht, ein bisschen milder. Durch seinen Kopf ziehen die Bilder des Sommers. Badekappen mit aufgesetzten Gummiblumen. Verschrumpelte Fingerkuppen. Der eigentümliche Sound mit seinem Grundrauschen, das in den Höhen von Mädchenschreien, Wasserplatschen und dem Zischen einer geöffneten Colaflasche durchbrochen wird. Hätte diese Vorfreude eine Farbe, sie wäre hellblau wie die Swimmingpools, die der Künstler David Hockney in Los Angeles gemalt hat. Die Welt geht aus dem Leim, aber der Tagträumer hat die Gewissheit, dass die Wasseroberfläche nach jedem Einschlag von selbst zu neuem, glattem Azur verheilt. Das ist beruhigend. Dazu nickt das Sprungbrett am Fünf-Meter-Turm mit leisem Flap-flap. Alles in Ordnung.

Der Sommerurlaub eignet sich auch deshalb besonders gut zum Vorfreuen, weil er mehrere Versprechen birgt. Auf selbstbestimmte Zeit. Auf die Freiheit von Verpflichtungen. Auf das Erleben anderer Welten und Realitäten. Auf Gemeinsamkeit. Das Unerwartete. Im Grunde muss man dafür gar nicht weit fahren, das ist zunächst eine Kopfsache. Der Edelmann Xavier de Maistre wurde Ende des 18. Jahrhunderts unter Hausarrest gestellt, denn er hatte sich duelliert, und das war verboten. De Maistre, der gern und lustig lebte, konnte sich nun nicht so recht darüber freuen, dass er im Zweikampf nicht gefallen war, denn die Ballsaison begann, und er musste daheim bleiben.

Um sich von der sinnlichen Entbehrung abzulenken, schrieb er ein Buch, einen Entdeckerbericht, der zur Bibel aller Kopfreisenden geworden ist: "Reise um mein Zimmer". Er betrachtete die Bilder an der Wand, tauchte ein in die Zeichnungen und unterhielt sich mit den dort abgebildeten Schäferinnen. Er fand im Schreibtisch Briefe aus der Jugendzeit und verjüngte sich bei der Lektüre. Er philosophierte über seine Möbel, und wer das gelesen hat, für den wird ein Bett nie mehr einfach bloß ein Bett sein. Das Buch lehrt, dass die Kunst des Reisens zunächst an das Schauen und Vorstellen gebunden ist und nicht unbedingt darin besteht, dass man exotische Destinationen erkundet.

Meine Eltern sind nie in Urlaub gefahren, wirklich nie. Nur einmal nahmen sie sich vor zu verreisen, ich war noch sehr jung damals, deshalb weiß ich nicht, wie es zu dem Entschluss gekommen ist. Sie wollten nach Italien, und zur Vorbereitung kauften sie sich ein Wörterbuch von Langenscheidt. Aus der Reise wurde nichts, aber das Wörterbuch lag noch jahrelang im Wohnzimmer auf dem Tisch neben dem Lieblingsplatz meines Vaters. Als Symbol womöglich, als Tür, durch die man nur zu gehen braucht: Zwischen den Zeilen lockt das Mittelmeer.

Vorfreude äußert sich bei mir so: Ich lege auf dem Handy eine Liste an, in die ich alle Dinge schreibe, die ich mitnehmen möchte und alle Sachen, die ich machen will. Ich stelle Playlisten zusammen fürs Musikhören am Urlaubsort, darin findet sich Verwegenes neben Kitschigem, Albernes und Wehmütiges, niemals aber Anstrengendes und Ernstgemeintes. Lieder, die zuhause nicht wirken würden oder doch zumindest anders, weil man sie nur versteht, wenn man Badelatschen trägt und nach Sonnencreme duftet. Also eher Barry Manilow als Bob Dylan. Ich lege Bücher parat, die ich lesen will; dicke Bücher, viel zu dicke Bücher genau genommen, aber Vorfreude ist immer auch Selbstbetrug. Sie wirkt wie ein Rauschmittel. Im "Kleinen Prinzen", dessen Poesie durch das viele Zitieren schon etwas speckig geworden ist, die aber - wenn man alleine ist und ehrlich zu sich selbst - oft ziemlich schön und wahr sein kann, lässt Antoine de Saint-Exupéry den Fuchs zum kleinen Prinzen dieses sagen: "Wenn du um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein."

Die Forscher, die mehr herausfinden wollten über das Phänomen der Vorfreude, schlossen ihre Testpersonen an allerlei Geräte an. Dabei entdeckten sie, dass bei Menschen, die sich auf etwas freuen, der Endorphin-Spiegel steigt und die Anzeichen für Stress weniger werden. Vorfreuen macht gelassen. Man darf nun allerdings nicht den Fehler machen, das, was man sich ausmalt, im Urlaub tatsächlich verwirklichen zu wollen. Dann würde Vorfreude in die Enttäuschung führen. Vorfreude ist etwas Eigenständiges, ein Geisteszustand, der durch feine Nervenbahnen mit der Kindheit verbunden ist, als man alles zum ersten Mal erlebte. Vorfreude ist etwas Argloses, ein Museum der Unschuld.

Ich finde gut, dass es sie gibt.

(hols)
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