Braunschweig Wenn Klaviere bei Kälte die Stimmung verlieren

Braunschweig · Die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Perri Knize hat ein faszinierendes Buch über Klangeinbußen ihres Flügels geschrieben.

Ein Klavier, ein Klavier – und was für eins! Bei Loriot gelangte es als Geschenk von Mutter aus dem fernen Massachusetts in eine finstere deutsche Kleinfamilie, heute ist der transatlantische Dampfer in die Gegenrichtung gefahren: Ein Flügel aus Braunschweig, 192 Zentimeter lang, wird in ein Wohnzimmer in Missoula (US-Bundesstaat Montana) geliefert. Garantiezeit: zehn Jahre. Preis: 32 000 Dollar.

Die Käuferin hatte sich in einem New Yorker Klaviergeschäft an der sogenannten Piano Row in den singenden und geheimnisvollen Ton des Instruments der Firma Grotrian-Steinweg so verliebt, dass sie ihm gleich den Kosenamen "Marlene" gab. Jetzt steht die edle Erwerbung, an einem bitterkalten Wintertag geliefert, viel zu groß in ihrer Wohnung – und klingt fremd. Über dem glockenhellen Glitzern des Diskants liegt Muffigkeit, die aparte Tiefe tönt schrecklich dumpf, Marlene ist ein Schatten ihrer selbst. Damit will sich die Besitzerin nicht abgeben; Perri Knize macht sich auf die Suche nach dem verlorenen Klang. Was mag da unterwegs passiert sein? Ein Defekt? Ein Transportschaden? Oder hängt die Besitzerin der Chimäre an, eine spezifische Klavierstimmung, einmal eingestellt, halte sich für immer und ewig?

Jedenfalls beginnt – in der Gestalt eines autobiografisch grundierten Reportage-Romans – eine aufregende, detektivisch anmutende Spurensuche unter dem Titel "Der verlorene Klang", bei der die professionelle Journalistin und Hobby-Pianistin Knize alle Register der Fehlerforschung zieht: Sie kommuniziert mit Experten in einem Klavier-Internetforum, das für sie zur Selbsthilfegruppe wird; sie konferiert mit Klavierbauern, Händlern und Tüftlern, besucht Klaviergeschäfte, in denen sich fabrikneue Instrumente wie Sportwagen reihen, lernt Restauratoren kennen, die unter heruntergekommenen Klavierkadavern hausen wie in einem Lazarett, sie begreift, dass es einen Unterschied zwischen Stimmung und Intonation gibt, sie macht sich mit Hämmern und Resonanzböden vertraut, lädt zahllose Techniker in ihre Wohnung – doch es bleibt bei ihren Höllenqualen, weil kein einziger Korrektureingriff jenen Sound wiederherstellen kann, der ihr als Erinnerung an den Kauf in New York unablässig präsent geblieben ist. Knize wird zur Profihörerin, zur Besessenen und bald zur Handlungsreisenden, die in eigener Sache eine Mission in die innere Welt des Klavierbaus unternimmt.

In dieser Welt leben zahllose Enthusiasten und Sonderlinge, von denen jeder seinen eigenen Plan zur Rettung von Marlene hat: Die Hämmer sind mal zu hart, mal zu weich; mal müssen sie stärker angestochen, dann wieder mit Chemikalien behandelt werden. Keiner blickt da noch durch; fragt sie drei Gurus, bekommt sie vier Meinungen. Plötzlich ist es – Frucht der Erkenntnis – nicht mehr die Hardware, die das Problem birgt, sondern die Stimmung: Wie groß oder klein sollten (wenn die "reine" Stimmung am Klavier aus physikalischen Gründen sowieso unmöglich ist) die Quinten sein? Wie müssen die Intervalle genau über die Klaviatur verteilt sein, damit ihre "Schubert-Stimmung" dabei herauskommt? Am Ende reist Knize sogar ins Mutterwerk nach Braunschweig – und das Phantom bekommt mathematisch-akustische Konturen: Sie erlernt die Formel, nach der die Techniker daheim in Montana das Klavier perfekt stimmen können. Vor diesen Feinhörigen unter den Klavierstimmern verliert sie nie ihre Hochachtung: Sie hält sie für "Neurochirurgen mit dem Gehalt eines Installateurs".

Perri Knize ist keine gelernte Musikjournalistin, doch gelingt ihr ein kleines Wunder: Sie schärft das Ohr des Lesers für den Klang eines Klaviers. Sie lehrt uns mit amerikanischem Eine-gegen-den-Rest-der-Welt-Schwung, wie wichtig eine eigene Meinung ist, gegen die kein Torpedo ankommt. Und sie lehrt uns, Kostbares von Gewöhnlichem zu unterscheiden. Nach der letzten Seite eilt der Leser gleich zu seinem eigenen Klavier, leicht verängstigt, ob es noch so klingt wie immer. Wir alle wissen: Jetzt ist wieder die Zeit des Heizens, und bald muss jemand kommen, der das Jaulen, Klirren, Beben, Wummern beendet. Stimmung ist flüchtig, so ist der Lauf der Zeit.

(RP)
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