Europas Rolle in der Raumfahrt ESA soll Weltraum-Revolution starten
Paris · In den USA drängt ein Start-up nach dem anderen in den Weltraummarkt. China definiert sich selbst als Raumfahrtnation. Und in Europa? Ein Expertenbericht für die europäische Weltraumorganisation Esa kritisiert verkrustete Strukturen.
Es war einmal. So beginnen in der Regel Märchen. Oder der wehmütige Rückblick in eine Zeit, in der Europa einen entscheidenden Anteil an der kommerziellen Raumfahrt hatte. Und so lange ist das gar nicht her. Noch vor zehn Jahren hatte Europa da einen Anteil von 17 Prozent, im Jahr 2000 lag der sogar bei mehr als 33 Prozent. Nach Angaben des US-Verkehrsministeriums. Und heute? Da sei der Anteil kaum existent, sagte Cédric O bei einer Pressekonferenz der europäischen Weltraumorganisation Esa am Donnerstag. Der französische Politiker und ehemaliger Staatssekretär für Digitales gehört zu den Autoren eines unabhängigen Berichts, den die Esa in Auftrag gegeben hat. Um festzustellen, was sich bei Raumfahrt in Europa ändern muss.
Und das Urteil der sogenannten High Level Advisory Group (hochrangige Beratergruppe) fällt eindeutig aus: Europa droht den Anschluss zu verlieren und nicht mehr am Tisch der Großen zu sitzen. So wie es in der Vergangenheit schon bei anderen Themen wie künstlicher Intelligenz, Cloud Computing oder Halbleitern geschehen ist. Und das in einer Zeit, in der das Geschäft mit Raketen und Satelliten durchstartet. Laut dem Bericht der Gruppe liegt das Gesamtvolumen des Marktes derzeit zwischen 350 und 400 Milliarden Euro und wird bis 2040 auf eine Billion wachsen.
In Europa aber kann man derzeit nur noch mit veralteten Raketen starten. Die moderne Vega-C bleibt nach dem Fehlstart im Dezember erst einmal am Boden. Und der Jungfernflug der „Ariane 6“? Auf unsere Nachfrage sagt der zuständige Esa-Direktor Daniel Neuenschwander, es würden noch drei wichtige Tests anstehen. Ende Juni könne man dann ein Startfenster nennen. Derzeit bleibe man dabei, dass der Jungfernflug im vierten Quartal dieses Jahres vorgesehen sei. Das klingt indes noch nicht sicher.
Es muss sich dringend etwas tun. So die Expertenkommission. Und dazu zählt, dass die Mitgliedsstaaten der Esa bereit sein müssten, mehr Geld zu investieren. Vor allem im Vergleich zu den USA. Dort ist die US-Weltraumbehörde Nasa bereit, um die acht Milliarden Dollar jährlich alleine für das Mondprogramm auszugeben. Das ist etwa die Hälfte des Esa-Budgets von knapp 17 Milliarden – für drei Jahre. Allerdings betont Cédric O auch, dass es nicht nur eine Frage des Geldes sei.
Das Budget der Nasa ist in den vergangenen zehn Jahren stetig, aber nicht explosiv gewachsen. Von inflationsbereinigt knapp 20 Milliarden auf 25 Milliarden US-Dollar. Aber auch die Finanzierung der Esa sei in den vergangenen Jahren gewachsen. Also was machte dann den Unterschied aus, der Europa quasi vom Weltraummarkt drängte? Es war vor allem ein Unternehmen: SpaceX von Elon Musk.
Mit Leidenschaft. Begeisterungsfähigkeit und sehr viel Medienpräsenz hat man innerhalb von zehn Jahren den Markt mehr oder weniger neu aufgerollt und hat sich zum derzeitig führenden Weltraum-Unternehmen hochgearbeitet. Und betrachtet man das Geld, das in SpaceX geflossen ist: Das seien seit 2013 zwischen zehn bis 15 Milliarden Dollar gewesen aus Regierungsaufträgen und privatem Investment, sagt Cédric O. Also gar nicht mal riesige Unsummen, die aber effizient eingesetzt worden sei. Und da sieht die Expertengruppe dringenden Handlungsbedarf.
Ihre Empfehlung: Das Engagement der Industrie muss größer werden und für mehr Konkurrenz sorgen. Was indes nicht offen oder direkt gesagt wird, sich aber durchaus interpretieren lässt: Bislang konzentriert sich sehr viel, vielleicht auch zu viel in Europa und oft politisch gewollt auf die seit Jahrzehnten gesetzten Unternehmen wie Airbus, OHB oder Arianespace.
Und für mehr Konkurrenz könnte die Esa sorgen, indem sie Ziele vorgibt, Aufträge garantiert und dann beispielsweise offene Ausschreibungen startet – damit sich mehr Firmen mit ihren Ideen bewerben. Und die Ziele sind für die Expertengruppe klar und klingen überaus ambitioniert. Dazu zählen: eine europäische Raumstation im erdnahen Orbit, die Möglichkeit, aus eigener Kraft mit Astronauten ins All zu starten und eine eigene bemannte Mondmission. Innerhalb der nächsten zehn Jahre. Das würde einer Revolution des Weltraummarktes in Europa gleichkommen. Auch mit geostrategischer Bedeutung. Dann Europa könnte so Länder in Lateinamerika oder Afrika für die eigenen Missionen gewinnen, die sich schwer damit tun, sich entweder für die USA oder China zu entscheiden – wenn sie Weltraumambitionen haben.
Falls das nicht geschieht, könnte man bald nicht mehr mit am Tisch sitzen. Europa würde zu einem Juniorpartner degradiert. Und das würde auch bedeuten, dass viele junge, kluge, engagierte Menschen abwandern würden. Ingenieure aus Luft- und Raumfahrt und andere vom Weltraum Begeisterte. Sie würden dorthin gehen, wo sie sich verwirklichen könnten. Und angesichts der vielen Start-ups und aufstrebenden Raumfahrtunternehmen in den USA, wird ihr Weg sehr wahrscheinlich in die Vereinigten Staaten führen. Schließlich hat SpaceX eher ungewollt mehr getan, als nur selbst Raketen zu bauen. Das Unternehmen unter Elon Musk hat eine neue Generation von „Raumfahrern“ geschaffen, die mit ihren eigenen US-Entwicklungen ins All streben. So wie „Relativity Space“, die Raketen aus einem 3D-Drucker bauen. Der Jungfernflug in der Nacht zum Donnerstag war zwar nicht erfolgreich, weil die zweite Stufe nicht richtig zündete. Aber von dem Rückschlag wird man sich nicht aufhalten lassen.
Derzeit befinde man sich in einer Situation wie vor 20 oder 25 Jahren mit dem zu der Zeit noch neuen Internet. Damals hat Europa den Einstieg verpasst und alles US-Unternehmen überlassen, die heute dominieren. Das dürfe sich nicht wiederholen. Der Preis für ein zu geringes Engagement im Weltraum werde am Ende höher sein als alle kurzfristigen Kosten.
Den Bericht der unabhängigen Expertenkommission will der Esa-Generaldirektor Josef Aschbacher nun diskutieren. Beim europäischen Weltraumkongress im November des Jahres, bei dem hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft zusammenkommen werden.