"Solar Impulse" Der Gladbacher, der ein Solarflugzeug baute, das die Erde umrundete

Mönchengladbach/Abu Dhabi · Mit einem Experimentalflugzeug hat der Visionär Bertrand Piccard die Welt umrundet. Ermöglicht hat das ein strenger Ingenieur aus Mönchengladbach.

 Hans Joachim Wüstemann (69) ist der Skeptiker unter den Optimisten im "Solar Impulse"-Team. An seinem "Okay" hingen Menschenleben.

Hans Joachim Wüstemann (69) ist der Skeptiker unter den Optimisten im "Solar Impulse"-Team. An seinem "Okay" hingen Menschenleben.

Foto: Phil Ninh

Das Flugzeug bewegt sich nicht. Die besten Ingenieure der Welt haben jedes Einzelteil davon maßangefertigt — simuliert, konstruiert, perfektioniert bis zum letzten Millimeter und Milligramm, zwölf Jahre hat das gedauert und 140 Millionen Euro gekostet, doch jetzt, als es darauf ankommt, bewegt es sich nicht.

Ein Held muss her.

Inmitten der Menge aus Zuschauern und Kameraleuten neben dem Rollfeld des Al Bateen Airport von Abu Dhabi steht ein 69-jähriger Elektro-Ingenieur, den die Umstehenden, wenn sie ihm überhaupt Beachtung schenken, wohl für den stolzen Vater eines Teammitglieds halten. Wenn er Glück hat, für den eines Piloten, der einzig vorstellbaren Helden von Fliegergeschichten.

Hans Joachim Wüstemann fehlt alles, was sie ausmacht. Ihre Aura, ihre Bräune, ihre Jugend, ihre Sonnenbrille. Er hat nicht einmal einen Flugschein, mit dem er einen Drachenflieger auf einer besseren Wiese in Kerken oder Kamp-Lintfort starten dürfte, geschweige denn ein Flugzeug, das aussieht wie ein Flugzeug.

Angetrieben von Sonne und Hoffnung

Andererseits sieht auch die "Solar Impulse 2", die an diesem 9. März um 6.30 Uhr Ortszeit streikt, nicht aus wie ein Flugzeug. Das auf sonderbare Weise elegante Gerät — halb Hinterhofprojekt, halb Raumschiff — hat eine größere Spannweite als ein Jumbojet, wiegt aber nicht mehr als ein Auto und ist deshalb zerbrechlich wie eine Salzstange.

All das muss so sein, weil es die Welt umrunden soll, und zwar ohne einen einzigen Tropfen Treibstoff. Indem es Solarenergie so massenhaft sammelt, so effizient speichert und so dosiert wieder abgibt, dass es auch nachts in Bewegung bleiben kann. Teils nur mit Tempo 50, angetrieben von den letzten paar Volt von gestern und der Hoffnung, die Sonnenstrahlen des nächsten Tages einzufangen, bevor es am Boden zerschellt. Die Etappen über Atlantik und Pazifik dauern je fünf Tage und Nächte, am Steuer sitzt ein Pilot, der nie länger als 20 Minuten am Stück schlafen darf, sich deshalb in Yoga und Selbsthypnose übt und elf Mahlzeiten am Tag zu sich nimmt, die sich durch eine eigens entwickelte chemische Reaktion selbst erhitzen.

Alles ist bis ins letzte Detail ausgeklügelt, jede Eventualität bedacht — doch was nutzt das Fliegen in Gedanken? Das Flugzeug bewegt sich noch immer nicht. Die Jogger und Radrennfahrer, die es beim Start zusätzlich anschieben sollen, stutzen.

 Die etatmäßigen Helden des "Solar Impulse"-Projekts: Bertrand Piccard und André Borschberg.

Die etatmäßigen Helden des "Solar Impulse"-Projekts: Bertrand Piccard und André Borschberg.

Foto: Solar Impulse | Ackermann | Rezo.ch

Ein Fall für Wüstemann

Den beiden Piloten, die sich etappenweise abwechseln wollen, bricht der Schweiß aus. Nicht nur dem Ex-Militärpiloten und MIT-Absolventen André Borschberg (62) im Cockpit, der unmittelbar vor dem Abflug noch auf Englisch mit starkem französischem Akzent erklärt hatte: "Du kannst dir vieles vorstellen, vieles kalkulieren und simulieren, aber das sagt nichts aus über den Augenblick der Wahrheit."

Sondern auch Bertrand Piccard (57) — smart, telegen, gelernter Arzt, fortgebildet zum Menschenfischer. Der Mann, dessen Großvater Höhenrekorde aufgestellt hatte, dessen Vater per U-Boot in den Marianengraben getaucht war und der selbst 1999 als Erster überhaupt nonstop die Welt umrundet hatte, in einem Ballon. Und der das nun toppen wollte, per Flugzeug, in verschiedenen Etappen, über Wochen verteilt, von denen er nur jede zweite selbst fliegen würde — aber dennoch um ein Vielfaches schwieriger. Weil er entschlossen war, nicht noch einmal 3,7 Tonnen Flüssiggas zu verbrennen. Und auch kein Kerosin und keinen Diesel, nicht mal Rapsöl oder Kompost. Sondern bloß die Energie der Sonne, eingefangen von 17.248 Solarzellen, dünn wie ein menschliches Haar. Jede kann man sich schon jetzt reservieren, mit den 200 Dollar pro Stück werden etwa Bildungsprojekte zu Energieeffizienz gefördert.

Doch Piccards Zugkraft bei Sponsoren, Medien und Menschen wie Michail Gorbatschow oder Kofi Annan, ein Stückweit auch die ungezählten Testflüge über den halben Globus, scheinen verschenkt, der zum weltweiten "Must see"-Medienereignis hochgejazzte Start zur Weltumrundung verpatzt, Vertrauensvorschuss und Glaubwürdigkeit beim ungeduldigen Eventpublikum bis auf Weiteres verspielt. Ein Startabbruch steht im Raum, denn Borschberg hat einen schweren technischen Defekt gemeldet: Einer der Konverter für die Spannung der Solarenergie ist offenbar kaputt. Mehrere Teile der Cockpitausrüstung wären damit von der Stromversorgung abgeschnitten, darunter die beheizbaren Schuhe der Pilotenausrüstung — überlebenswichtig bei minus 20, 30, 40 Grad Außentemperatur, denn eine Cockpitheizung gibt es nicht. Zu schwer, zu energiehungrig.

Die Piloten gehören zu den besten ihres Fach, aber sie bleiben Piloten — und sind angesichts dieses Problems genauso hilflos wie Prinz Albert von Monaco, der im Kontrollzentrum mitfiebert. Auch von den 80 gestandenen Ingenieuren, die am Projekt "Solar Impulse" arbeiten und die nicht bloß in warmen Worten bezahlt werden wie bei einem besseren "Jugend forscht"-Wettbewerb, sondern in harten Schweizer Franken von Sponsoren aus der Industrie, kann nur einer helfen. Derjenige, der drei Jahre seines Lebens damit verbracht hat, den Prototypen "Solar Impulse 1" fast im Alleingang zu entwickeln. Derjenige, der für die Avionik (d.h. Elektrik und Elektronik) des Weltrekordflugzeugs "Solar Impulse 2" verantwortlich ist und die Piloten darin lange geschult hat.

 Ein Teil der "Solar Impulse"-Ingenieure. Unter ihnen: Hans Joachim Wüstemann (Sechster von rechts in der obersten Reihe)

Ein Teil der "Solar Impulse"-Ingenieure. Unter ihnen: Hans Joachim Wüstemann (Sechster von rechts in der obersten Reihe)

Foto: Solar Impulse | Pizzolante

Das hier ist ein Fall für Hans Joachim Wüstemann.

Auf ihm lastet ungeheurer Druck

"Ich wartete, bis man mich in der Menge suchte, fand und zum Flugzeug brachte", erinnert er sich im Interview mit unserer Redaktion. 6500 Kilometer von seiner Heimat Mönchengladbach-Hardt entfernt war er schon vorher, das kann er ab, doch von jetzt auf gleich tritt er aus der Masse und ist völlig allein vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Auf ihm lastet ein ungeheurer Druck. Wenn er den Daumen senkt, verpufft ein großer Teil der Euphorie für das Mammutprojekt. Sponsoren und Journalisten werden grummeln, und wer weiß schon, ob der Start einfach eine Stunde später nachgeholt werden kann, oder wenigstens am nächsten Tag. Durchaus möglich, dass sich das Zeitfenster schließt, weil plötzlich ein anderer den Daumen senkt, der Chef-Meteorologe vielleicht, der mit seinem 40-köpfigen Team zu dem Schluss gekommen ist, dass der Wind zu stark auffrischt. Das Flugverhalten der "Solar Impulse 2" ist höchst labil: Neigen sich ihre Flügel um mehr als 5 Grad, droht ein Absturz. Eine zu heftige Bö kann das Ende bedeuten. 2012 war bei einer Simulation der Flügelholm gebrochen, das Carbon-Rückgrat des Fliegers. Es dauerte zehn Monate, bis der neue fertig war, und nur eine kräftige Finanzspritze von Google bewahrte das Projekt vor dem Aus.

Er wolle niemanden einbremsen, beteuert Wüstemann, doch genau das ist, wenn es hart auf hart kommt, sein Job. Er mag Optimist sein wie alle anderen im Team, als Motto "Nichts ist unmöglich" angeben, aber Skepsis bleibt sein wichtigster Wesenszug. Deshalb ist er hier, mehr noch als wegen seiner Auffassungsgabe und Erfahrung. Er repräsentiert die Realität, an der sich Piccards Visionen messen lassen müssen. Die Piloten mögen Romantisches über ihren Beruf lesen wie Saint-Exupérys "Wind, Sand und Sterne", er bevorzugt Fachzeitschriften wie die "Avionics News".

Der Spielverderber vom Dienst gibt das Okay

Wüstemann ist der Spielverderber vom Dienst. Eine Institution in Flugsicherheitskreisen, seit fast 45 Jahren zertifizierter "Prüfer von Luftfahrtgerät Bereich Avionik, Klasse 1, 2 und 4 sowie B2 und C". Fast 30 Jahre lang hat er bei Rhein-Flugzeugbau in Mönchengladbach gearbeitet, dazu bei legendären Flugzeugherstellern wie Dornier und Extra. Überall hat er Bauteile zur Serienreife gebracht. An jedem "Okay" von ihm hängen Menschenleben. Die paar Kameras könnten ihn nicht dazu verleiten, es vorschnell zu geben.

Mechaniker schrauben die Tür ab, von rechts beugt sich Wüstemann ins enge Cockpit, zu seiner gelben Warnweste trägt er einen verkniffenen Gesichtsausdruck, das ist selbst auf dem pixeligen Videoschnipsel der Aktion (ab Minute 1:42) zu sehen.

Er kreist den Fehler ein, schaut, überlegt, schraubt, prüft, prüft erneut — und gibt nach 20 Minuten Entwarnung. Der von ihm selbst entworfene, angeblich fehlerhafte Stromkonverter funktioniere einwandfrei, meldet er, kaputt sei nur dessen Kontrollmechanismus, und den habe er gerade repariert.

Borschberg und ihr gemeinsamer Boss Piccard haben keinen Zweifel an Wüstemanns Worten.

Also gibt Prinz Albert die Starterlaubnis, die vier Propeller beginnen zu sirren, Borschberg gibt Schub und hebt ab, lässt die diesige Luft um die Wolkenkratzer und Minarette von Abu Dhabi hinter sich und beginnt de Reise, die noch mehrere Wochen dauern wird und weniger Rekordjagd sein soll als Werbekampagne für erneuerbare Energien. Noch während des Flugs berichtet der Pilot im projekteigenen Web-TV davon, wie Wüstemann herausfand, dass "das potenzielle Problem eben kein reelles war, dass also alles in Ordnung ist — und dann war auch alles in bester Ordnung."

Piccards Werk und Wüstemanns Beitrag

Ohne weitere Probleme hat es die "Solar Impulse 2" inzwischen über Indien, China und Japan nach Hawaii geschafft. Sobald das Wetter stimmt, geht es quer über die USA und Europa zurück nach Abu Dhabi.

Mehr als 80 Jahre nach Hans Albers' "Flieger, grüß mir die Sonne" hat eine Ära begonnen, in der die Sonne diesen Gruß erwidert. Zur Hälfte ist das Bertrand Piccard zu verdanken, zur anderen jenen, die helfen, seine Vision umzusetzen. Marinesoldaten in Nordholz an der Nordsee, die den Piloten das Notlanden über Wasser beigebracht haben. Bayer-Chemikern in Dormagen und Krefeld-Uerdingen, die Hochleistungsmaterialien für "Solar Impulse" beisteuerten, Fasern, Beschichtungen, Dämmungen. Programmierern und Logistikern aus aller Welt.

Und einem 69-Jährigen aus Mönchengladbach und dessen Frau Martha, die nicht eifersüchtig ist auf dessen zweite Liebe, die Fliegerei, sondern ihn darin unterstützt, sie auszuleben, in Gladbach und Grönland, Israel und Indien. Doch, stolz sei er schon, wenn er eines seiner Projekte am Himmel fliegen sehe, gibt Wüstemann zu, und ja, die Last-Minute-Rettung des Projekts "Solar Impulse" sei auch ein großer persönlicher Erfolg. Borschberg, der normalerweise nicht im Verdacht steht, unter poetischen Anwandlungen zu leiden, hatte andere Worte dafür gefunden: "Hans, du hast heilende Hände."

(tojo)
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