Berlin Schwarze Schafe im weißen Kittel

Berlin · "Chefarzt-Behandlung" ist ein Privileg der Privat- und Zusatzversicherten. Das Insider-Buch eines Mediziners warnt vor dem Schluss, dass damit automatisch die bestmögliche Behandlung eines Kranken garantiert sei.

Das bisherige Leben von Paul Brandenburg möchte man nicht gelebt haben. Offenbar hat der 1978 geborene Mediziner unter seinen Chefärzten furchtbar gelitten. Ihnen hat er im Buch "Kliniken und Nebenwirkungen – Überleben in Deutschlands Krankenhäusern" reine Galle eingeschenkt. Das Buch ist polemisch, aber klug. Sein Berufsweg führte den Autor durch die Charité in Berlin und das Universitätsspital Zürich. Er weiß, wovon er redet.

Klinikchefs seien oft Vertreter der Devise, "dass Kollegen nicht geführt, sondern unterworfen werden sollen". Das habe eine historische Ursache, denn das deutsche Krankenhaus sei, so Brandenburg, "ein Kind des preußischen Militärs". In diesem System habe sich jener "Charakterdefekt" entwickelt, "den viele Chefärzte im Lauf ihrer Weiterbildung beigebracht bekamen". Früher lautete die Übereinkunft: "Lass es zehn Jahre mit dir machen, am Ende sitzt du selbst am Fleischtopf." Dieses mit Segnungen winkende Modell sei abgeschafft – "weder in Personal- noch in Budgetangelegenheiten verfügt der Chefarzt von heute über echte Autorität. Auch das Liquidationsrecht alter Form existiert nicht mehr."

Diese Entwicklung habe manchen Chef so verärgert, dass seine Kompetenz erstarrte. Medizin beherrsche er allenfalls auf dem Niveau, wie er sie selbst vor zehn, 15 Jahren gelernt habe. Viele Oberärzte besäßen mehr innovative Routine; in manchen Fällen (oft den kritischen) würden sie vom Chef an den OP-Tisch geholt, damit der Eingriff zu einem glücklichen Ende gelange. Derweil spaziere der Chef über die Privatstation, reklamiere aber die Einnahmen jener Eingriffe, die er delegiert habe, ungeniert für sich selbst.

Das ist die Schattenseite, aber natürlich gibt es auch viel Licht. Gottlob führt Brandenburg jene Chefärzte an, die immer noch die Ersten und Besten ihrer Zunft in der Klinik sind – und menschlich alles andere als Schinder. Vorbildliche, bescheidene, kollegiale Chefärzte sind immer noch in der Mehrzahl; sie stehen von morgens bis abends im Dienst der Patientenversorgung, kümmern sich um die Privatsprechstunde, verwalten ihren Etat, bilden den Nachwuchs und sich selbst regelmäßig weiter.

Gleichwohl hallt ein Satz Brandenburgs wie ein Donnerschlag nach: "Die Tatsache, dass Privatversicherte häufiger von Chefärzten behandelt werden, ist kein automatischer Vorteil für den Patienten." An anderer Stelle heißt es lakonisch: "Die Behandlung durch den Chefarzt ist selten besser als die durch einen anderen erfahrenen Arzt des Teams." Wer dennoch den Chef am Tisch wünsche, solle dem "Wunschoperateur das Versprechen abnehmen, dass er den Eingriff selbst durchführt". Zuweilen kommt es allerdings vor, dass ein gut informierter Patient privat versichert ist, aber die Operation vom Oberarzt erledigt wünscht. Nur ein Chefarzt mit Allmachtsgefühlen ignoriert diese Bitte.

Trotz vieler Vorbilder der Kaste finde man, so Brandenburg, immer wieder jenes an Betrug grenzende Übel, dass Operationsrechnungen nicht ausweisen, wie gering der Anteil des Chefs an der OP war. Manchmal sei er gar nicht anwesend und kassiere trotzdem. Das ARD-Magazin "Kontraste" hat recherchiert, dass Chefärzte für ihre Privatpatienten ohnedies oft kaum Zeit hätten: "Oft soll der Patient – kurz vor der Behandlung – ein Formular unterschreiben und zustimmen, dass sich der Chef von anderen vertreten lässt und trotzdem seine Leistung berechnet. Ständige Vertreter zu benennen, ist gängige Praxis." Charlotte Henkel (Verbraucherzentrale Hamburg) sieht das kühl: "Wenn der Patient den Chefarzt durch einen Vertrag bucht, muss der Patient sich darauf verlassen können, dass der Chefarzt selber persönlich diese Behandlung erbringt." Das hat der Bundesgerichtshof bestätigt.

Was sind Verträge über eine Chefarzt-Behandlung wert? Unter Maklern hört man oft die Losung, "dass Versicherungen mit dem Chefarzttarif nur zusätzlich Geld machen wollen". Ein Makler, der anonym bleiben wollte, sagte der ARD: "Eigentlich kriegen die Kunden die Leistung nicht. In neun von zehn Fällen, die ich selbst kenne, war das so."

Wer oft mit Klinikärzten gesprochen hat, ahnt die Misere, in der sie stecken. Man spürt den Verlust der Privilegien. Dass der Nachwuchs fehlt, hat auch mit den miserablen Umgangsformen in vielen Kliniken zu tun. Dort trifft es am Ende der Kette die Jüngsten – die Assistenzärzte. Zwar hat der Hartmannbund einen Arbeitskreis für Assistenzärzte eröffnet, mit dem Ziel "eines besseren Schutzes für junge Ärzte, um Frustration und den drohenden Ärztemangel zu verhindern. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen kann nur durch einen breiten Konsens innerhalb der Ärzteschaft erreicht werden."

Diesen Zielkonsens hält Brandenburg für eine Chimäre, auch weil Assistenzärzte einander aus nachvollziehbaren darwinistischen Gründen bekämpfen. Einzig gehe es um den Nachweis am Ende der Ausbildung, dass man genug Darmspiegelungen und Nervenwasser-Entnahmen absolviert hat. Und es geht um die Pole-Position für die freie Oberarztstelle. So erleben viele Chefs das Katzbuckeln ihrer Assistenten als komplementäre Geste zur "preußischen Hierarchietradition" (Brandenburg), der sie selbst anhängen. Professor Brinkmann lebt weiter. Aber nur in deutschen Kliniken: Im europäischen Ausland ist der aufgeblasene Halbgott in Weiß unbekannt.

Neulich sprach sich der Fall eines Chef-Internisten herum, der seine Klinikverwaltung in schneidigem Feldwebel-Ton aufforderte, sie möge seinen "Professorentitel" nie mehr vergessen (das war ausnahmsweise in einer Pressemitteilung geschehen); er habe lange für diesen Titel geschuftet. Als ihm ein Mitarbeiter der Verwaltung höflich, aber juristisch korrekt eröffnete, dass der "Professor" in Deutschland kein Namensbestandteil sei, bekam der Gemeinte eine schwere Tobsuchtskrise. Ob er sie in einem Einzelzimmer mit Chefarzt-Behandlung auskurierte, ist nicht bekannt.

(RP)
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