Schützen und Karneval bald als Kulturerbe?

Das immaterielle Kulturerbe wird seit 2003 in internationalen Listen eingetragen. Jetzt bewirbt sich auch das deutsche Brauchtum.

Schützen und Karneval bald als Kulturerbe?
Foto: dpa, Julian Stratenschulte

Es ist die Gemeinschaft. Das Bewusstsein, dazuzugehören. Es ist aber auch eine Fähigkeit, ein Wissen oder ein Brauch. Es stiftet Identität, steht für Entwicklung und Kontinuität. Gruppen oder Einzelpersonen sehen es als festen Bestandteil ihrer Kultur an. "Es ist ein solches Bindeglied, was uns bewegt", sagt Eva-Maria Seng, Professorin am Lehrstuhl für materielles und immaterielles Kulturerbe. Sie betont, dass es jenseits der Materialität Dinge gebe, die die Gesellschaft ausmachen. Die Unesco definiert genau dies als immaterielles Kulturerbe.

"Ein immaterielles Kulturerbe muss praktiziert werden, noch lebendig und kulturstiftend für eine Gemeinschaft sein", heißt es von Seiten der Unesco. Entscheidend sei, dass das Kulturerbe von Generation zu Generation weitergegeben werde. Das können Tanz, Theater und Spiel ebenso sein wie Bräuche und Handwerkskünste.

Das immaterielle Kulturerbe ist eine Weiterführung des Weltkulturerbes der Unesco. Das "Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt" wurde 1972 verabschiedet. 191 Staaten haben es unterzeichnet. 39 deutsche Welterbestätten stehen auf der Liste, darunter der Aachener und der Kölner Dom, die Wartburg und das Wattenmeer.

Das Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes wurde erst 2003 verabschiedet. In Deutschland trat das Unesco-Übereinkommen erst 2013 in Kraft. Damit hat sich Deutschland verpflichtet, in mehreren Stufen ein bundesweites Verzeichnis zu erstellen. Die Kultusministerkonferenz, ein Expertenkomitee der Deutschen Unesco-Kommission und die Bundesregierung ermitteln eine Auswahl, die es in das nationale Verzeichnis schafft. Erst danach werden zwei deutsche Vorschläge der Unesco in Paris zur Aufnahme in eine der internationalen Kulturerbe-Listen der Unesco übermittelt.

Zurzeit gehören 83 Vorschläge, die die Bundesländer nach Berlin weitergegeben haben, zur Auswahl für das bundesweite Verzeichnis. Aufgelistet sind unter anderem die Sage "Der Rattenfänger von Hameln", das Skat-Spielen und das Bierbrauen. Nordrhein-Westfalen hat den rheinischen Karneval sowie den Osterräderlauf in Lügde (Kreis Lippe) empfohlen. Hinzukommt als länderübergreifender Vorschlag das Schützenwesen.

Die NRW-Jury würdigte den Karneval als "große kulturelle Ausdrucksform" und lobte dessen Beitrag für die Gemeinschaft. Zudem beschäftige sich der Karneval auf humorvolle Art mit gesellschaftlichen Fragen. "Der Karneval stellt mit all seinen Facetten einen Gesamtwert da. Er fördert die Gemeinschaft und soziales Verhalten", sagt Michael Laumen, Vizepräsident des Comitees Düsseldorfer Carneval. Der bolivianische Karneval steht bereits auf der Unesco-Liste.

Auch die Schützen heben ihre Vorzüge hervor. "Das Schützenwesen ist, abgesehen von lokalen Bräuchen, das älteste noch lebendige Brauchtum in Europa", sagt Peter-Olaf Hoffmann, Generalsekretär der Europäischen Gemeinschaft Historischer Schützen (EGS). 570 000 Schützen sind in knapp 3000 Bruderschaften, Vereinen oder Gilden aktiv. Besonders im Rheinland und in Westfalen wirken die Schützen identitätsstiftend. "Das Schützenwesen hat sich immer weiterentwickelt und leistet einen wichtigen Beitrag für den Gemeinsinn", sagt er. In Belgien und den Niederlanden ist das Schützen-Brauchtum als Kulturerbe anerkannt.

Warum hat eine Liste mit eingetragenem Kulturerbe solch einen großen Stellenwert? "Es geht um eine angemessene Anerkennung der Alltagskultur - und um Wertschätzung und Schutz", betont die Unesco. Dem schließen sich die Vertreter des Schützenwesens und des Karnevals an. Sie verstehen einen Eintrag als Würdigung ihres Brauches und als Verpflichtung, das Erbe weiterhin zu pflegen.

Kulturerbe-Expertin Eva-Maria Seng hält das Schützenwesen und den Karneval für würdig, Kulturerbe zu werden. Beide Brauchtümer würden seit Jahrhunderten "schichtenunabhängig Menschen vereinigen". Sie sind auch kürzlich in das nordrhein-westfälische Landesinventar aufgenommen worden.

Laut Seng gehören Materialität und Immaterialität beim Kulturerbe untrennbar zusammen: "Jede Materialität bekommt erst durch ihre immaterielle Zuschreibung ihre Wertsetzung." Das Immaterielle könne wiederum nicht ohne das Materielle existieren. Beim Tanzen beispielsweise werden Kostüme erst durch filigrane, elegante Bewegungen aufgewertet. Ein Skatspiel erhält seinen Wert erst durch das Spielen. Einzigartige Gebäude wie der Kölner Dom erhalten ihren Charakter erst durch die Akustik oder den Lichteinfall.

"Viele Menschen haben zum immateriellen Kulturerbe einen stärkeren Zugang", sagt Seng. Es gehöre mehr zu ihrem direkten Leben. Rituale wie Flashmobs (kurzer, spontaner Menschenauflauf) und Darstellungsformen wie Poetry Slam müssten erst noch beweisen, ob sie das Zeug zum Kulturerbe haben und mehr als nur ein Trend sind.

Die Expertin prognostiziert, dass das Kulturerbe weiterhin einen Wandel und sogar einen Austausch erleben wird. Dies sei nicht bedrohlich, sondern liege in der Natur des Menschen. Sie erwartet Mischungen von Kulturprozessen. Beispielhaft führt sie mögliche Neuheiten beim Karneval auf, wie Orangen statt Kamellen. Das wird in Italien praktiziert. Das Kulturerbe müsse zudem noch mehr dokumentiert werden. Da bestehe Nachholbedarf.

(RP)
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