Recklinghausen Verdrehte Welt

Recklinghausen · Edgar Selge spielt den islamkritischen Roman "Die Unterwerfung" - allein. Grandioser Abend bei den Ruhrfestspielen.

Er ist gefangen im Hamsterrad. Doch das ist kein transparentes Drahtwerk, sondern eine massive Scheibe, in die ein wuchtiges Kreuz geschnitten ist. In diesem symbolischen Hohlraum krabbelt Edgar Selge nun umher, während das Kreuz sich langsam dreht, den kleinen Menschen auf immer neue schiefe Ebenen zwingt, ihn empor hebt, krabbeln lässt, in Ecken drängt, ganz wie das Räderwerk es will.

Es ist ein großartiges Bild, das Karin Beier in ihrer Adaption des viel diskutierten Bestsellers "Die Unterwerfung" von Michel Houellebecq auf die Bühne stellt. Denn der larmoyante Ich-Erzähler des Romans, Literaturprofessor mit wechselnden Geliebten, Schöngeist mit angekränkeltem Lebensmut, ist den Ereignissen in Frankreich ausgeliefert. Er ist hineingeraten ins Mühlrad der Geschichte und beobachtet ungläubig, wie bei demokratischen Wahlen im Mutterland der Revolution für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit radikale Kräfte siegen, wie sich die alten, ermüdeten Eliten hinter dem radikalen Muslim versammeln, weil der sich gemäßigt gibt und viel Geld aus Saudi-Arabien verteilt. Und wie die neuen muslimischen Regenten ihre Macht sofort im Bildungssektor ausspielen, ihre Getreuen an die Universitäten bringen, Frauen in die Welt der Häuslichkeit verbannen. Jedenfalls ist der Literaturprofessor mit dem lockeren Lebenswandel seinen Job sofort los. Dafür bekommt er knapp 4000 Euro Pension. Da kann man nicht klagen.

Fast drei Stunden wird Edgar Selge als François von der schleichenden Revolution in seinem Land erzählen, wird in einem ungeheuren geistigen wie körperlichen Kraftakt in all die Figuren des Romans schlüpfen, eine erdachte Welt lebendig machen. Und das ist das Grandiose dieses Abends: Dass er ein Gedankenexperiment im wahrsten Sinne durchspielt, einen Menschen aus Fleisch und Blut von einer Machtübernahme erzählen lässt, die fast unbemerkt geschieht, weil die Verantwortlichen sich für Machtspiele interessieren, als sie für ihre Werte eintreten müssten. Doch die haben sie ohnehin aus den Augen verloren im postmodernen Allerlei der Überzeugungen.

Und während Selge als Augenzeuge berichtet, wirkt das alles plötzlich nicht mehr nur satirisch, sondern beklemmend in seinem Realitäts-Potenzial. So gelingt es Karin Beier, einen Roman, der mit triefendem Sarkasmus auf die moralische Ermüdung der westlichen Welt zielt, mit den Mitteln des Theaters noch entlarvender zu machen.

Und weil Houellebecq ein süffisanter Erzähler ist und Selge ein großer Schauspieler, wuchtet er die Textmasse mit frappierender Leichtigkeit auf die Bühne. Es ist ihm eine frivole Freude. Und das Gastspiel des Hamburger Schauspielhauses bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen wird ein Triumph des verkörperten Wortes.

Dominante Bühnenbilder wie diese schwarze Scheibe mit Kreuz, die da den gesamten Abend wie der Kopf einer gewaltigen Tunnel-Fräse in das Theater ragt, sind gefährlich. Oft zwingen sie einem komplexen Text eine einzige Deutung auf und lassen keine Entwicklungen zu. Doch der Hamburger Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier gelingt es durch minimale Zugaben, die Spannung zu halten und der Drehscheibe immer neue Deutungsanstöße zu geben. Da geht François einkaufen, als in Paris der Ausnahmezustand droht. Papiertüten voller Konsumgüter wirft er in seine drehende Behausung; da wird das Mühlrad zum Müllrad, und fortan purzeln mit dem vereinsamten François auch der Überfluss, die Abfall gewordene Dekadenz, durch das Dreh-Kreuz.

Und auch das wird auf der Bühne deutlich: "Die Unterwerfung" ist ein politisches Buch, das mit enormer Suggestivkraft vor der Gleichgültigkeit und Borniertheit der Etablierten warnt. Aber es ist auch ein Text über die Einsamkeit des aufgeklärten Intellektuellen. Darüber, wie schwer es ist, als Individuum in der Freiheit der westlichen Welt zu überleben, wenn einer ganz auf sich zurückgeworfen ist. François vertraut weder auf Familie, Freunde, die Liebe noch auf Religion. Einzig die Literatur bietet ihm Halt, doch kann der Mensch nicht existieren, wenn er nur für sich denkt, liest, Calvados trinkt und immer deutlicher spürt, dass sein Leben keinen Sinn hat. Weil er für nichts und niemanden von Bedeutung ist.

Die befreiende Kraft der Aufklärung und die beflügelnde Macht der Freiheit haben bei Houellebecq all ihren Glanz, ihre Begeisterungsfähigkeit eingebüßt. Er lässt einen desillusionierten Atheisten sprechen, den die Freiheit erschöpft hat, für den die Unwiederbringlichkeit der Zeit die einzige Lebensgewissheit ist. Am Ende ist François erleichtert, die Last der Verantwortung für sein Leben an die Gewissheiten des fundamentalen Islam abzutreten.

Auch die Erschöpfung seiner Figur spielt Selge mit grandioser Beiläufigkeit. Nie ist er pathetischer Mime, nie ein Solist, der sich an der eigenen Leistung berauscht. Sein Spiel dient dem Text, beflügelt ihn, stellt heraus, dass Houellebecq nicht nur ein brisantes politisches Buch geschrieben, sondern auch Literatur geschaffen hat. In solch seltenen Fällen sind Romanadaptionen nicht nur Publikumsbeschaffungsmaßnahmen für das Theater, sondern Beweis für dessen vitale Kraft. Begeisterter Applaus.

(dok)
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