Berlin Provokante Schau über jüdisches Leben

Berlin · Das Jüdische Museum in Berlin beschäftigt sich in einer aufregenden Schau mit den vielen Klischees über Juden.

Natürlich wird über die Plakate mitten in Berlin jetzt viel gesprochen – mal ängstlich, mal wütend, auch zynisch. "Die Juden sind an allem schuld" steht darauf in Schreibschrift. Und sie erinnert an die hingeschmierten Nazi-Parolen von einst, "Kauft nicht bei Juden!". Doch die Botschaft aus dem Grenzbereich der Volksverhetzung haben keine Rechtsextremen in einer Nacht- und Nebelaktion großflächig verbreitet. Diesmal waren es ganz offiziell die Mitarbeiter des Jüdischen Museums, die so unbekümmert skandalös für ihre neue Sonderschau werben.

"Was Sie schon immer über Juden wissen wollten" heißt sie im Untertitel; und vermessen klingt dazu die Überschrift: "Die ganze Wahrheit". Dass es die kaum geben dürfte, wissen alle. Und so spiegelt sich schon darin das Spiel dieser Sonderschau aus Klischee und Aufklärung, aus feinem Humor und böser Provokation. Wir können uns darüber wundern oder können auch davor erschrecken, aber mokieren dürfen wir uns nicht. Denn tatsächlich sind wir es gewesen – die Besucher also –, die die Themen der Ausstellung vorgegeben haben. So hat man aus dem Gästebuch des 2001 eröffneten Museums oft gestellte Fragen herausgegriffen und zum Konzept der Schau erhoben.

Was also haben wir alles über Juden wissen wollen? Sind die Juden auserwählt? Wer ist Jude, wer nicht? Die Monroe oder Charlie Chaplin? "Warum mag keiner die Juden?", so lautet die eine Frage, und "warum lieben alle Juden?" lautet die andere. Kann man etwa aufhören, ein Jude zu sein? Und wer ist überhaupt ein Jude? Darauf gibt es eine für diese Ausstellung sehr typische Antwort – sie stammt vom früheren israelischen Premierminister David Ben Gurion: "Für mich gilt jeder als Jude, der meschugge genug ist, sich selbst einen zu nennen."

Die letzte Frage kann man sich sogar selbst beantworten. Denn politisch Superkorrekte waren sich unsicher, ob man überhaupt Jude sagen darf oder ob nicht dies schon böse wäre. Wie in einer Art Therapie darf jetzt der Besucher in einen Trichter laut "Jude" rufen; das erschallt dann wieder über einen Lautsprecher, und siehe da: Es geht doch ganz prima.

Die sicherlich bedenklichsten Antworten folgten auf die Frage, ob man über den Holocaust Witze machen darf. Ob es erlaubt ist, bleibt offen, dass es aber munter praktiziert wird, ist zu sehen. Unter anderem in einem amerikanischen Cartoon mit einem Mädchen und einem Jungen. Die Überschrift: Wie schwierig es ist, sich mit einem Mädchen in einem Konzentrationslager zu verabreden. Und der Junge fragt: Kann ich meine Telefonnummer auf deinen Arm schreiben? Bis er schaut und flucht: "Oh shit, no room!" – Mist, kein Platz! Wer jetzt lachen muss, hat nicht verloren. Zumal er sich nach diesem Holocaust-Frohsinn mit Sicherheit selbst befragen wird.

Der Besucher darf und soll in Fallen tappen, um zu verstehen, wie schwierig vieles ist und sein muss, aber auch wie einfach manches sein darf und kann. Natürlich wird auch Wissen vermittelt – dass etwa die wichtigste Regel für koscheres Essen die strikte Trennung von Fleisch und Milch ist und beides weder zusammen gekocht, verzehrt noch auf demselben Geschirr serviert werden darf. Und zum Verzehr erlaubte Säugetiere müssen Wiederkäuer sein und gespaltene Hufe haben.

Aber eine reine Info-Veranstaltung ist das nicht; und es gibt vielerorts so viele davon, dass man diesmal aus gutem Grund den Weg der Konfrontation wählte. Dabei zeigt das Jüdische Museum auch die Lust an Selbstironie. Denn das Haus in dem noch immer beeindruckenden Libeskind-Bau – seit 2001 von über acht Millionen Menschen besucht – steht durchaus in der Kritik von Juden. Ob Juden denn plötzlich Ausstellungsstücke seien, wird immer wieder gefragt. Und der jüdische Journalist Richard C. Schneider gab zu bedenken, dass er sich betrachtet fühlte "wie in einer Vitrine, wie ein seltenes Exemplar unter Glas". Das haben die Ausstellungsmacher dann wörtlich genommen und einen Juden in eine Vitrine gesetzt, der den Besuchern gerne über sein Leben und seine Religion Auskunft gibt.

Die Schau macht deutlich: Wir sind umstellt von Klischees. Und dann steht man auch noch vor hohen Plexiglasröhren und darf mit seinem roten Chip darüber abstimmen, ob Juden besonders schön, intelligent, tierlieb oder geschäftstüchtig seien. Zurzeit führt die Klugheit vor der Geschäftstüchtigkeit.

Keine Frage, die Ausstellung "Die ganze Wahrheit" ist auch ein Parcours der Selbsterfahrung und Selbsterkundung. Unbeeindruckt verlässt niemand das im Kreuzberger Abseits der üblichen Touristenströme gelegene Haus. Und auf dem Rückweg kommt man dann wieder an einem der Plakate vorbei und sieht erst jetzt, dass unter dem Spruch "Die Juden sind an allem schuld" ein tiefes Schlagloch lauert. Man darf ruhig reintreten. Stolpern schadet nicht.

(RP)
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