Interview Plädoyer für einen freien Willen

Düsseldorf (RP). Die Frage nach dem freien Willen beschäftigt seit Jahrhunderten Geistes- und Naturwissenschaftler gleichermaßen. Friedrich Wilhelm Graf, Professor an der evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und erfolgreicher Buchautor, ist einer von ihnen. Er nähert sich dem Thema aus religionswissenschaftlicher Sicht.

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Foto: AP

War es Ihre Entscheidung, Theologie zu studieren?

Graf Ja, es war meine Entscheidung. Biographisch hart erkämpft.

Es gab also äußere Einflüsse?

Graf Natürlich trifft man solche grundlegenden Entscheidungen immer im sozialen Kontext, in Gesprächen mit Freunden und anderen vertrauten Menschen. Aber im Kern habe ich mich selbst dazu entschieden. Ich wollte bewusst ein anspruchsvolles, geisteswissenschaftliches Studium absolvieren.

Sie sagen also, dass es einen freien Willen gibt. Naturwissenschaftler reden anders.

Graf Was die Naturwissenschaftler zeigen, sind ja ganz faszinierende Dinge. Wir dürfen daraus aber keine überzogenen Schlussfolgerungen ziehen. Das Problem in der gegenwärtigen Debatte liegt darin, dass auf vielen Seiten Erkenntnisse überbewertet werden. Dass aus kleinen, funktionalen Deutungen plötzlich große weltanschauliche Theorien gemacht werden - das ist unseriös. Womit bitte nicht gesagt ist, dass die Forschung an sich unseriös ist, sondern nur das, was man ideenpolitisch mit ihr macht.

Der freie Wille existiert also?

Graf Das ist eine Aussage, die ich so nicht treffen würde.

Warum nicht?

Graf Wir haben es mit einer sehr alten Debatte zu tun, die nicht so angelegt ist, dass man nur Ja oder Nein sagen kann. Aber ich unterstelle, dass der Mensch ein autonomes Subjekt ist und in der Regel verantwortlich ist für sein Handeln. Insofern unterstelle ich einen freien Willen.

Was ist für Sie dieser freie Wille?

Graf Der freie Wille ist eine moralisch relevante Kategorie. Er setzt voraus, dass ich ein Bewusstsein der Verantwortung für meine Taten habe. Dass ich mir der Folgen meiner Taten bewusst bin. Der freie Wille hat etwas zu tun mit der Autonomie des Subjekts, mit Reflexivität und mit Verantwortungsfähigkeit.

Aber er wird ständig von äußeren Faktoren beeinflusst also kann er gar nicht völlig frei sein.

Graf Wir leben in keiner Robinson-Welt, kein Mensch ist völlig isoliert. Aber die Tatsache, dass wir auf äußere Einflüsse reagieren, kann nicht zwingend bedeuten, dass wir nicht auch zur Selbstbestimmung fähig sind. Einige Naturwissenschaftler sprechen beim freien Willen von einem Reiz-Reaktions-Schema oder Reiz-Reaktions-System. So erklären sie auch die Liebe. Das ist sehr unbefriedigend.

Steckt noch mehr dahinter?

Graf Es gibt keine Emotion ohne neuronale Grundlage. Wenn wir sprechen, wenn wir denken, wenn wir fühlen, dann hat das immer etwas mit dem Nervensystem zu tun. Die spannende Frage dabei ist, ob eine rein neurologisch orientierte Erklärung solcher komplexen Phänomene zureichend ist. Genau das bestreite ich. Aber damit bezweifele ich nicht, dass es für all diese Phänomene eine neurologische Basis gibt.

Und welche Ebene liegt über der biologischen?

Graf "Über" ist mir zu räumlich gedacht. Liebe hat etwas mit Bewusstseinszuständen zu tun. Liebe hat etwas mit Ekstase zu tun. Liebe hat etwas mit Selbst-Transzendenz zu tun. Und das sind sehr komplexe Phänomene, von denen ich glaube, dass man sie nicht in einer einzigen Theoriesprache ausreichend erläutern kann. Man kann ja auch sagen, Liebe hat etwas mit Ökonomie zu tun, wenn zum Beispiel ein Mann eine reiche Frau liebt. Dann kann man sagen, dass die Beziehung eine ökonomische Komponente hat. Die Beziehung aber darauf zu reduzieren, das ist mit Sicherheit falsch. Der Mensch ist zu komplex, um sich in einem Theoriebild umfassend begreifen zu können. Und dass sich unterschiedliche Theorien auch mal widersprechen können, das ist einfach so.

Tobias Dupke führte das Gespräch.

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