Düsseldorf Panik – zwischen Flucht und Ohnmacht

Düsseldorf · Betrachtet man die Bilder von Passagieren des havarierten Unglücksschiffs, die sie noch von Bord per Handy oder Video etwa an Angehörige übermittelt haben, fällt die erhebliche Spannbreite ihrer Reaktionen auf. Da gibt es einige Menschen, die in Menschentrauben völlig hysterisch in engen Fluren gestikulieren. Anderer wirken beinahe teilnahmslos. Viele rufen, andere sind stumm. Einige weinen, andere scheinen sich angesichts dieser Art von "Action" animiert zu fühlen, bei wieder anderen schleicht gar eine Art von Coolness durchs Gesicht. Manche schauen derart ungläubig, als zweifelten sie an der Realität des Geschehens um sie herum.

Kein Zweifel besteht darin, dass Angst das Leitsymptom vieler Passagiere war. Angst und Furcht befähigen uns, Sofortmaßnahmen zur Lösung des Problems zu ergreifen. In diesen Situationen spult im Körper jedes Menschen eine evolutionär programmierte Kaskade ab, an welcher der Sympathikus als aktivierender Teil des vegetativen Nervensystems beteiligt ist: "Er mobilisiert das Bereitstellungssystem des Körpers, jagt Herzfrequenz und Blutdruck in die Höhe, schießt Adrenalin durch den Körper", sagt Andreas oljan, psychologischer Psychotherapeut in Düsseldorf. "All dies sind autonome physiologische Reaktionen, die die Muskulatur benötigen könnte, um Flucht oder Befreiung zu gewährleisten. Wir können diese Prozesse in uns gar nicht steuern, sie laufen einfach ab."

Vor der toskanischen Küste war dieses Fluchtverhalten jedoch weitgehend unmöglich, sofern Passagiere eingesperrt waren in Gängen, Kabinen, Speiseräumen. Bei ihnen schoss die Energie ins Leere – daraus resultierte Panik. "Angreifen kann ich nicht, weglaufen auch nicht", sagt oljan – daraus entstehe eine besondere Form der Hilflosigkeit. Hierbei ist der Parasympathikus, der Gegenspieler des Sympathikus im vegetativen Nervensystem, in Aktion; es kann sogar zum muskulären Erstarren kommen, das nennen Psychologen die Freeze-Reaktion. Sie bedeutet nichts anderes als die Entfremdung vom Geschehen. "Passagiere, die abgebrüht wirken, sind es meist nicht. Sie umgeben ihren lodernden Kern nur mit einem Panzer", erklärt oljan.

Die Ohnmacht der Passagiere ähnelt der Ohnmacht der Angehörigen daheim oder mit an Bord, die noch kein Lebenszeichen von ihren Liebsten bekommen haben – in ihnen tobt der Aufruhr aus Handlungswillen und -unfähigkeit. An Bord wiederum führte dieser Zwiespalt bei etlichen Passagieren zum Sprung ins kalte Wasser – sie wollten in auswegloser Situation etwas unternehmen und keinesfalls untätig bleiben. Kam es zu heftigem Gedränge vor Türen, so waren es typische Abläufe einer Massenpanik, die in sich gefährdet fühlenden Kollektiven vor allem in engen Räumen häufig auftritt. Hierbei werden erlernte Verhaltensweisen (Rücksicht auf andere) triebhaft ignoriert: Das Individuum ist sich selbst das nächste. Hieraus resultierten die Toten bei der Duisburger Love Parade.

Fraglos werden nicht wenige Passagiere mit der Bewältigung der Erlebnisse länger beschäftigt sein. "Viele werden wohl resilient sein, also seelisch stabil", glaubt oljan, "sie werden ihre positiven Ressourcen mobilisieren und beispielsweise denken: Das hab ich jetzt also erlebt, es wird mir vermutlich nie wieder passieren'." In anderen könnte sich das Erlebnis, vor allem wenn Angehörige verletzt wurden oder gar ums Leben kamen, als Trauma einnisten – nun droht die Gefahr einer gravierenden posttraumatischen Belastungsstörung. Diesen Menschen muss man schnell psychotherapeutisch helfen, nicht erst in einigen Monaten", weiß oljan, "sonst wird die Störung sich zu einer ernsthaften chronischen Erkrankung auswachsen."

(RP)
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