Strafen noch aus dem Jahr 1941 Änderung für Mordparagraf gefordert – Nazi-Reste im Strafgesetzbuch?

Dossier | Berlin · Der Mordparagraf im Strafgesetzbuch soll seit Jahrzehnten reformiert werden. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) plant „sprachliche Änderungen“. Doch sind die überhaupt notwendig? Oder ist die Norm aus anderen Gründen weit mehr reformbedürftig?

Roland Freisler war Präsident des Volksgerichtshofes und maßgeblich an den 1941 neu eingeführten Tötungstatbeständen beteiligt. Bei einem Luftangriff auf Berlin 1945 kam er ums Leben.

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Es ist nur ein kleiner Absatz auf Seite vier des Eckpunktepapiers zur Modernisierung des Strafgesetzbuches. Zwischen den Ausführungen zu den Straftatbeständen der Gebührenüberhebung und des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer – beides Normen, welche diese Reform nicht überleben sollten – findet sich auch eine auffällig kurze Erklärung zu Totschlag und Mord. Die Tatbestände sollen sprachlich, aber nicht inhaltlich angepasst werden.

Konkrete politische Bestrebungen gab es bereits. Zu nennen sind insbesondere der 53. Juristentag von 1980 oder der mit großem Pathos angekündigte und letztlich im Sande verlaufende Reformversuch von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) im Jahr 2015. Nun plant Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) „sprachliche Änderungen“

Neu ist diesmal nur, dass das aktuelle Vorhaben von beispielloser Zaghaftigkeit geprägt ist – und wohl gerade deshalb Aussicht auf Erfolg hat. Kritik jedoch gibt es wie so oft aus der Strafrechtslehre.

Nazi-Richter Roland Freisler gilt als Urheber

Im Eckpunktepapier heißt es: „Die Strafvorschriften über die Tötungsdelikte stammen im Wesentlichen aus dem Jahr 1941. Sie bezeichnen den Täter als ‚Mörder‘ und ‚Totschläger’.“ Diese atypische Gesetzesfassung beruhe auf der Lehre vom „Tätertyp“, welche besonders in der NS-Zeit populär gewesen sei.

Die noch heute bestehenden Tötungstatbestände wurden damals unter anderem auf Betreiben des glühenden Nationalsozialisten und späteren Präsidenten des Volksgerichtshofes Roland Freisler grundlegend neu gefasst.

Der „Täter“ selbst und nicht mehr dessen „Tat“, wie es zuvor im Reichsstrafgesetzbuch noch der Fall war, wurde zum Anknüpfungspunkt einer Bestrafung gemacht: „Der Gesetzgeber hat ihn (den Täter) ganz einfach hingestellt. Damit der Richter ihn ansehen und sagen kann: ‚das Subjekt verdient den Strang‘“, schrieb Freisler bereits 1939 in einer Juristenzeitschrift. Auf Grundlage der neuen Gesetzgebung fällte der von Freisler geführte Erste Senat zwischen 1942 und 1944 mehr als 2600 Todesurteile, unter anderem gegen Mitglieder der Weißen Rose.

Auffällig: In der Zeit von 1918 bis 1941 hatte sich das Reichsstrafgericht gemäß der in der Berliner Staatsbibliothek einsehbaren Entscheidungenssammlung insgesamt nur 15 Mal mit dem Mordparagrafen oder dem Begriff des Mörders bei der Urteilsfindung auseinander gesetzt.

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Die heutigen § 212 und § 211 StGB sind seit Freisler und Co. bis auf die Androhung der Todesstrafe unverändert geblieben. Es heißt: Wer einen Menschen „tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger nicht unter fünf Jahren“ und „der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe“ bestraft.

Sprachlicher Unterschied zu anderen Straftatbeständen

Fast alle Vertreter der gegenwärtigen Strafrechtslehre und Praxis lehnen diese auch Tätertypologie genannte Vorstellung einer Einteilung von Individuen anhand personenbezogener Merkmale in Straftätergruppen ab. Die heutige materielle Strafbarkeit knüpft im Gegensatz dazu maßgeblich an die verwirklichten Taten an, ähnlich wie auch schon die Tötungsdelikte im Reichsstrafgesetzbuch von 1871.

„Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“ - § 211 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (Fassung von 1. Januar 1872–15. September 1941)

„Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung nicht mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegen Todtschlages mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.“ - § 212 Strafgesetzbuch des Reiches (Fassung von 1. Januar 1872–15. September 1941)

Vergleicht man ähnlich aufgebaute „modernere“ strafrechtliche Formulierungen etwa zu Diebstahl und Raub mit der des § 211 StGB (Mord), wird dessen Wesensverschiedenheit anschaulich: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird (...) bestraft“, lautet der Diebstahltatbestand. Ähnlich ist es beim Raub: „Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen (...) eine fremde bewegliche Sache einem anderen (mit Zueignungsabsicht) wegnimmt, wird (..) bestraft“.

Diese Struktur mit einleitenden „Wer“-Formulierungen findet sich auch bei den Normen zur Brandstiftung, Vergewaltigung, Hehlerei, Beischlaf unter Verwandten, Störung der Totenruhe, Urkundenfälschung, Trunkenheit im Verkehr und vielen weiteren. Manchmal, wie bei der neuesten Fassung des Tatbestandes zur Bildung krimineller Vereinigungen stellt der Gesetzgeber – sich einem Drang zur Variation hingebend – die Rechtsfolge, also den Strafrahmen, an den Satzbeginn. Das „Wer“ und die Tatbestandsvoraussetzungen folgen hier sogleich nach dem Komma.

Der § 211 StGB jedoch ist anders. Hier heißt es: „Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“ und „Mörder ist, wer (...)“. Dann folgen die objektiven und subjektiven Mordmerkmale. Angegebene Merkmale wie Habgier, Heimtücke oder die niedrigen Beweggründen gilt es stets anhand des Einzelfalles auszulegen und diesen unter einen oder mehrere Merkmale zu subsumieren. Mithilfe ausdifferenzierter Kriterien, von Definitionen und Theorien, bemüht sich die deutsche Rechtsprechung seit Jahrzehnten, passende Urteile zu fällen.

Dennoch keine typische Nazi-Gesetzgebung ?

Die Schwierigkeit dabei liegt in den Augen vieler Vertreter der Lehre letztlich nicht in der aus der Norm ausstrahlenden Tätertypologie, sondern im zwingend folgenden Strafmaß.

„Der § 211 ist keine typische nationalsozialistische Gesetzgebung“, sagt Professor Gereon Wolters von der Uni Bochum. Das objektive Merkmal der Heimtücke etwa bilde das ab, „was wir im Strafrecht möchten – Tatbezogenheit. Es wird nicht der Täter bewertet. Das ist durchaus moderne Strafgesetzgebung.“

Anders sehe es zwar bei den niedrigen Beweggründen aus. Die stimmten als Strafschärfungstatbestand bezüglich der Einstellung des Täters zum Delikt nicht ideal mit der Tatbezogenheit überein, passten aber dennoch in die Reihe der unbestimmten Rechtsbegriffe des Strafrechts, die sich mit dem Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz reiben.

„Die Tätermotivation ist nichts dem Strafgesetzbuch Fremdes. Sie ist der Auslegung zugänglich“, sagt Wolters. Es sei keine geschickte Formulierung. „Aber das macht diese Norm nicht zur Nazi-Norm“, so der Strafrechtler. „Die Nazis haben nichts eigenes erdacht, sie haben alles aufgenommen aus kriminologischen Strömungen, die es vorher schon gab.“ Das wahre Problem seien daher nicht die Mordmerkmale, die von der Rechtsprechung „in über 80 Jahren so geformt wurden, dass sie im Einklang mit dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Bestimmtheitsgrundsatz stehen“, sondern „die Absolutheit der lebenslangen Freiheitsstrafe“.

Absolut Lebenslang nur bei Mord

Diese „Absolutheit“ beschreibt im Hinblick auf den § 211 StGB die zwingende Verhängung von lebenslangem Freiheitsentzug als Strafe, ohne jede – ursprünglich vorgesehene – Möglichkeit des Ausweichens oder der Minderung im Urteil. Zwar gibt es die Androhung dieser existenziellen Strafe auch bei anderen Taten im Strafgesetzbuch, aber nur bei Mord erlaubt die Rechtsfolge keine mildere Alternative.

Nur beispielhaft zu nennen sind dabei etwa die Qualifikationsdelikte bei Vergewaltigung, Brandstiftung, Geiselnahme oder Raub, die den Zusatz „mit Todesfolge“ im Titel tragen. Erst im Februar dieses Jahres – von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen – schrieb der Gesetzgeber die lebenslange Freiheitsstrafe übrigens erstmalig auch in das Aufenthaltsgesetz im Bezug auf Schleuserkriminalität hinein, § 97 Abs 1, S. 2 AufenthG. Die Androhung der lebenslangen Freiheitsstrafe ist dem Mord-Tatbestand also nicht exklusiv vorbehalten. Ausnahmslos jedoch kann ein Gericht bei allen anderen Delikten auch eine mildere, zeitlich begrenzte Strafe aussprechen. Ausnahme: Einige Tatbestände des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) führen die lebenslange Freiheitsstrafe als zwingende Rechtsfolge. Allerdings handelt es sich dabei ausschließlich um tatbezogene Formulierungen.

Festzuhalten bleibt aber, dass auch zu „Lebenslang“ verurteilte Straftäter eine Möglichkeit haben freizukommen, wenn sie eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung beantragen. In einem Normenkontrollverfahren zum § 211 StGB befand das Bundesverfassungsgericht 1977, dass es „zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden.“ Die Möglichkeit einer Begnadigung reiche nicht aus. Seither können Verurteilte frühestens nach 15 Jahren einen Antrag auf vorzeitige Entlassung stellen, § 57a StGB. Im Schnitt kommen sie so nach 19 Jahren, bei besonders schwerer Schuld nach etwa 24 Jahren frei, je nach Einzelfall.

Es gebe jedoch auch bis heute Fälle, in denen auf Grundlage dieses Paragrafen „Straftäter seit 50 Jahren im Gefängnis sitzen oder nach Jahrzehnten in Haft sterben“, sagt Wolters.

Bei lebenslanger Freiheitsstrafe „unerträglich“

Die Notwendigkeit einer Begriffsauslegung wegen sprachlicher Weite von Tatbestandsmerkmalen ist im Strafrecht nichts Ungewöhnliches. Der emeritierte Potsdamer Professor und Vorsitzende des Kriminalpolitischen Kreises Wolfgang Mitsch kritisiert in seinem Aufsatz „Die notwendige Reform der Tötungsdelikte im StGB“ aus dem Jahr 2020 aber: „Bei einem Strafgesetz, das absolut lebenslange Freiheitsstrafe androht, ist der Grad an Unbestimmtheit, den das Merkmal ‚sonstige niedrige Beweggründe‘ repräsentiert, unerträglich.“ Auch bei der Auswahl der anderen Mordmerkmale liege kein erkennbarer Leitgedanke zugrunde, die Zusammensetzung des Kataloges erscheine „planlos, zufällig und willkürlich“. Den im Vergleich mit dem Totschlag angeblich drastisch erhöhten Strafwürdigkeitsgehalt des Mordes mit gesteigerter „Verwerflichkeit“ zu erklären, sei demnach eine einfache, jedoch völlig nichtssagende, unspezifische Behauptung. Es sei nicht verständlich, warum gerade die ausgewählten Mordmerkmale die alternativlose Ahndung der vorsätzlichen Tötung eines Menschen mit lebenslanger Freiheitsstrafe rechtfertigen.

Gereon Wolters kritisiert deutlich: „Der §211 ist die einzige Vorschrift, die dem Richter verbietet, Einzelfallentscheidungen vorzunehmen. Bei Feststellung der Voraussetzungen gibt es nur eine zwingende Rechtsfolge – die lebenslange Freiheitsstrafe. Auch wenn das manchmal zu gezwungenermaßen äußerst ungerechten Urteilen führt. Das ist so nicht richtig.“ Man müsse bezüglich des Strafrahmens „Beweglichkeit“ schaffen.

Daher wird die starre Sanktionsregelung des Mordparagrafen, welche oftmals das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu sprengen droht, in weiten Teilen der Lehre als der dringendere Grund für eine Reform angesehen, weniger ihr Ursprung in der NS-Zeit.

Ministerium betreibt „sprachliche Kosmetik“

Das Bundesjustizministerium will es bei dem Entwurf hingegen bei einer rein sprachlichen Überarbeitung belassen: „Bezüglich des Inhalts hat die Rechtsprechung überzeugende Wege gefunden, auf Grundlage des geltenden Rechts zu angemessenen Ergebnissen zu gelangen. Jede inhaltliche Reform birgt außerdem die Gefahr neuer Rechtsunsicherheit“, sagt die Ministeriumssprecherin Marie-Christine Fuchs auf Anfrage der Rheinischen Post. Inhaltliche Änderungen der Rechtslage seien nicht geplant.

Strafrechtsprofessor Wolters begrüßt eine eventuelle Entfernung des Wortes „Mörder“, bezeichnet die Initiative aber vorsichtig als „Reförmchen“. Auch sein Kollege Wolfgang Mitsch bezeichnet das Vorhaben grundsätzlich als richtig. Es erfasse jedoch nicht das Kernproblem: „Richtig ist, dass die Erwähnung ‚Mörder‘ überflüssig ist und aus diesem Grund entfernt werden sollte. Eine ‚Reform‘ wäre diese minimalinvasive Sprachkosmetik selbstverständlich nicht.“

Oft bemüht: Der Haustyrannen-Fall

Es gibt somit Reform-Befürworter, die eine Änderung auf Rechtsfolgenseite (lebenslange Freiheitsstrafe) trotz der etablierten Auslegung und Anwendung der Tatbestandsmerkmale für unumgänglich halten. Und es gibt jene, die außerdem oder ausschließlich die Anpassung der Mordmerkmale selbst fordern – teils auch einen ganz neu formulierten Tatbestand.

Alle Fürsprecher jedoch nehmen immer wieder Bezug auf den sogenannten „Haustyrannen-Fall“. Als Beispiel für als ungerecht befundene Urteile, die aus dem bestehenden Recht erwachsen können. Auch die Expertenkommission des Reformvorhabens 2015 unter dem damaligen Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) nahm dieses auf realen Begebenheiten beruhende Lehrbeispiel in ihren Abschlussbericht auf. Dieser Fall beschreibt die Probleme, die eines der umstrittenen objektiven Mordmerkmale mit sich bringt – die Heimtücke. Ein Merkmal, bei dem sich Lehre und Praxis seit Jahrzehnten winden, um eine einerseits restriktive, aber stimmige Auslegung hinzubekommen. Sehr zum Missfallen gequälter Jurastudenten, die alle Theorien, die Mindermeinungen sowie die Rechtsprechung kennen sollten.

Der „Haustyrannen-Fall“ in Kürze: Eine Frau wird jahrelang von ihrem sadistischen Ehemann gedemütigt, körperlich schwer misshandelt und psychisch gequält. Überdies beginnt er, auch die gemeinsamen Kinder körperlich anzugehen. Er droht der Frau für diese glaubhaft, dass er „sie finden“ würde, sollten sie und die Kinder ihn verlassen. Eines Tages fasst die Frau den Entschluss, ihn möglichst gefahrlos umzubringen. Möglicherweise durch Gift oder mittels starker Gewalteinwirkung während dieser schläft.

In beiden Fällen würde das Mordmerkmal „Heimtücke“ in Betracht kommen. Heimtückisch handelt nach abgekürzter juristischer Definition, wer die „Arglosigkeit“ des Opfers und dessen daraus resultierende „Wehrlosigkeit“ bewusst und zielgerichtet für die Tötung ausnutzt. Arglos ist jemand, der sich keines Angriffes versieht. Das Opfer darf also nach objektiv einsehbaren Umständen sich keines bevorstehenden Angriffs bewusst gewesen sein. Im konkreten Haustyrannen-Fall von 2001 erschoss die Ehefrau ihren schlafenden Mann.

Geht man davon aus, dass der getötete Ehemann trotz seiner Taten von einem engen Vertrauensverhältnis zu seiner Frau ausging, muss heimtückisches Handeln auch bei restriktiver Auslegung bejaht und die Täterin des Mordes schuldig gesprochen werden. Zwingende Folge wäre die lebenslange Freiheitsstrafe. Gesetzliche Rechtfertigungsgründe werden nicht anerkannt und die Frau hat auch – falls eine entschuldigende (dauerhafte) Notstandslage ausgeschlossen wird (s.u.) – schuldhaft gehandelt.

Zum Vergleich: Hätte die Frau „etwas mehr Mut gefasst“ und ihren aggressiven, gewalttätigen Mann beim Mittagessen mit einem Hammerschlag auf die Stirn ins Jenseits befördert und vorher noch für die Nachbarn möglichst hörbar „Ich bring’ dich um“ geschrien – fünf Jahre wegen Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB wären zumindest denkbar.

Dass die Frau durch ihr jahrelanges Leben in Angst zu so einer milder bestraften, weil „offeneren“ Tathandlung physisch und psychisch kaum in der Lage gewesen wäre, liegt durchaus auf der Hand. Somit werde der „mannhafte Zweikampf“ durch das Gesetz privilegiert, wie es Thomas Fischer, der frühere Vorsitzende des Zweiten Strafsenats am BGH, 2013 in der „Zeit“ beschrieb.

Um bei der Lösung solcher oder ähnlich gelagerter Fälle das allgemeine (und juristische) Gerechtigkeitsempfinden nicht auf eine unzumutbare Probe zu stellen, hat die Rechtsprechung, namentlich der Bundesgerichtshof (BGH), Auswege erdacht, die manchmal „notwendigerweise im Grunde an Rechtsbeugung grenzen“, sagt Gedeon Wolters. Der Große Senat des BGH entwickelte anhand des sogenannten „Onkel-Falles“, bei welchem ebenfalls die „Heimtücke“ des Täters bejaht wurde, bereits 1981 die bis heute debattierte „Rechtsfolgenlösung“. Diese nimmt in Fällen unbilliger Härte durch Androhung der lebenslangen Freiheitsstrafe des § 211 StGB gesetzlich nicht vorgeschriebene Milderungsgründe an. Teile der Lehre sehen hierdurch „das Wertungsgefüge“ der Tötungsdelikte Mord und Totschlag verzerrt. Das Gericht behalf sich aufsehenerregenderweise durch eine analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB.

Im Haustyrannen-Fall griff das erstinstanzliche Landgericht Hechingen 2001 auf diese Rechtsfolgenlösung zurück. So konnte die Täterin mit einer Freiheitsstrafe „nicht unter drei Jahren“ bestraft werden. Das liegt auch unter der Mindeststrafandrohung des Totschlages. Letztlich verurteilte das Gericht die Frau zu neun Jahren Freiheitsstrafe. Die Angeklagte ging – wohl klugerweise – in Revision.

Problem: Der BGH hat wiederholt betont, dass die Rechtsfolgenlösung nur in Ausnahmefällen herangezogen werden solle („Auffangfunktion“). Und signalisierte dies durch bewusst bedeutungsschwere Formulierungen. So könne die Lösung bei Grenzfällen zur Findung einer „Einzelfallgerechtigkeit“ in Betracht gezogen werden, bei denen die Taten „aus großer Verzweiflung, gerechtem Zorn oder tiefem Mitleid“ begangen wurden.

Ergebnis: Nachdem der BGH im Revisionsverfahren das Urteil aufhob und den Haustyrannen-Fall an eine andere Schwurgerichtskammer des zuständigen Landgerichtes verwies, wurde die Frau dort zwar gemäß § 211 StGB (Mord) verurteilt, allerdings „nur“ zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten.

Der BGH kritisierte die Entscheidung der erstinstanzlichen Kammer, da diese zu vorschnell die Rechtsfolgenlösung angewandt habe (BGH,1 StR 483/02). Letztlich wurde diese im vorliegenden Fall für das rechtskräftige Urteil auch gar nicht herangezogen. Die nun mit dem Fall betraute Strafkammer sah – auch durch Hinweis des BGH – einen vermeidbaren Irrtum der Frau über ihre (Notstands-)Lage als erwiesen an. So hätte die dauerhafte Gefahr, die vom Mann ausging, durch Inanspruchnahme staatlicher Hilfe ihrerseits abgewendet werden können. Aufgrund ihres körperlichen und mentalen Zustandes und der Lebensumstände hatte die Frau diese Möglichkeit vor der Tötung jedoch nicht mehr in Betracht gezogen. Gemäß der Regelung des entschuldigenden Notstandes in § 35 Abs. 2 S. 2 mit dessen Verweis auf § 49 StGB konnte die Strafe nun auch ohne die umstrittene Rechtsfortbildung des BGH von 1981 gemildert werden.

Fazit: „Ein Vorgehen anhand der Rechtsfolgenlösung tendiert natürlich, wie wir Juristen sagen ‚contra legem’“, meint Wolters, „aber ist in absoluten Ausnahmefällen sicher angemessen, wenn die Höchsstrafe völlig ungerecht erscheint und nicht anders zu umgehen ist.“

Ausdrücklich zu betonen ist dabei, dass die Frau, trotz ihrer scheinbar hilflosen Lage, nach geltendem Recht einen Mord begangen hat. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Erschießung des schlafenden Ehemannes das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt. Die beschriebenen Konstruktionen stellen daher nur die Herstellung einer „zufriedenstellenden“ rechtlichen Lösung bei der Erörterung der Schuldfrage und zur Strafzumessung dar, der die Absolutheit der lebenslangen Freiheitsstrafe entgegen stehen kann. Dass die Tat selbst ein zu bestrafender Heimtücke-Mord war, steht außer Frage.

Bei anderen Mord-Merkmalen wird die Rechtsfolgenlösung übrigens nicht angewandt. „Dort wird aufgrund der absoluten Strafandrohung versucht, auf der Tatbestandsseite enge Voraussetzungen zu beschreiben, um den § 211 möglichst nicht anzuwenden“, so Gereon Wolters. Insbesondere Heimtücke-Fälle zeigen aber deutlich, welche Probleme diese starre Rechtsfolge macht, „gerechte Urteile“ zu finden.

Vorschläge einer „echten Reform“

Neben der in der Praxis eher zu vernachlässigenden Klärung der Frage, in welchem systematischen Verhältnis Mord und Totschlag zu einander stehen – also ob der Mord die Qualifikation eines Grundtatbestandes Totschlag ist oder vielmehr eine ganz eigene Norm, die einen besonders verwerflichen Unrechtsgehalt beschreibt – sind es somit ein durchdachtes Konzept hinsichtlich der Mordmerkmale und eben jener flexiblere Strafrahmen, die Teile der Lehre und Praxis herbeisehnen. Also eben keine bloße sprachliche Anpassung – so sehr diese auch aus historischen Gründen geboten erscheint.

Eine Möglichkeit auf Tatbestandsebene wäre laut Gedeon Wolters, sich etwa am Beispiel des Diebstahls zu orientieren. So könne ein Regelbeispielkatalog für Tötungsdelikte eingeführt werden.

Regelbeispiele sind in der strafrechtlichen Systematik keine Tatbestände, sondern indizieren in Form beispielhafter Aufzählung das Vorliegen eines minder oder besonders schweren Falles.

Wolfgang Mirsch hält diesem Vorschlag die „partielle Unbestimmtheit, die der Regelbeispielmethode wesensimmanent ist“, entgegen. Auch, wenn sie viele Mängel des jetzigen § 211 StGB vermeide. Denn auch wenn kein Regelbeispiel erfüllt sein sollte, könnte ein Gericht einen Mord anhand eines „Gesamtwürdigungsergebnisses“ annehmen. Regelbeispiele gelten nur „beispielhaft“ und müssen nicht zwingend vorliegen. Daher sei ihre „ganz erhebliche Bedeutung für die Sanktionsentscheidung nicht vorhersehbar“.

„Mordlust“ und „Niedrige Beweggründe“ abschaffen

Mirsch befürwortet „ein Festhalten an der seit 1872 existierenden Struktur und Systematik der Tötungsdelikte“ (s.o.). Dies sei eine geeignete Basis für ein verbessertes Strafrecht in diesem Bereich. Es gelte, den Katalog des § 211 StGB „gründlich zu überholen“. So seien „Mordlust“ und „niedrige Beweggründe“ aufzuheben. Die angesprochene Heimtücke sei zu ersetzen durch neue Mordmerkmale, die „verschiedene Gruppen besonders vulnerabler, wehrloser und gefährdeter Opfer“ in den Mittelpunkt stellen.

Es gibt verschiedenste Anknüpfungspunkte und Änderungsvorschläge. Aber in einem sind sich Wolters, Mirsch und viele andere Befürworter der Reform des Mordparagrafen einig: Die Abschaffung der Absolutheit der lebenslangen Freiheitsstrafe.

Doch wie bereits Thomas Fischer – Herausgeber des bekannten StGB-Kommentars und ebenfalls Gegner dieser Höchststrafe – in seinem Buch „Über das Strafen“ schrieb: Das Strafrecht ist ein „sehr öffentlichkeitswirksames Rechtsgebiet“, und deshalb bleibt ein solcher Schritt für die politischen Entscheidungsträger aus Scheu vor der gesellschaftlichen Reaktion wohl ein stets zu gewagter.

Professor Gedeon Wolters ist daher skeptisch, ob es jemals dazu kommt: „Die Öffentlichkeit ist in dieser Frage zu sehr medial gebildet und verblendet. Und die moderne Politik hat schon deshalb gar nicht den Mut, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen“.