Visionäre Wissenschaft Milliarden-Coup für Europas Forscher

Brüssel · Die EU will Europas Wissenschaft international konkurrenzfähig halten. Sie fördert deshalb zwei Projekte mit je einer Milliarde Euro. Ein Großrechner soll das Gehirn simulieren. Eine andere Gruppe will ein neues Material zur Anwendungsreife führen: Graphen.

Die EU will Europas Wissenschaft international konkurrenzfähig halten. Sie fördert deshalb zwei Projekte mit je einer Milliarde Euro. Ein Großrechner soll das Gehirn simulieren. Eine andere Gruppe will ein neues Material zur Anwendungsreife führen: Graphen.

Als sich Anfang Juli die Augen der Welt auf einen kleinen Hörsaal in Genf richteten, da wurde deutlich, was europäische Forschung vermag, wenn sie nationale Grenzen ignoriert. Die Physiker am Teilchenbeschleuniger CERN gaben die Entdeckung des Higgs-Teilchens bekannt und fanden mit ihrer wissenschaftlichen Meisterleistung weltweit euphorische Anerkennung.

Am Montag soll die Erfolgsgeschichte fortgeschrieben werden. Die EU benennt in Brüssel zwei weitere Zukunftsprojekte, die jeweils eine Milliarde Euro Fördermittel erhalten sollen. Gut drei Jahre dauerte der Auswahlprozess aus 30 Kandidaten – die Sieger sind gut gewählt: einerseits anwendungsorientierte Forschung mit der Weiterentwicklung des Wunderwerkstoffs Graphen bis zur praktischen Anwendung. Andererseits ein zunächst theoretisches Projekt, dessen Nutzen sich in den nächsten zehn Jahren kaum einstellen wird: die Simulation des Gehirns von Maus und Mensch mit Großrechnern.

Für zehn Jahre werden beide Projekte gefördert, wobei die Forscher etwa die Hälfte des Milliarden-Budgets selbst einsammeln müssen. 108 Millionen Euro will die EU zum Start in den ersten zwei Jahren geben, die weiteren Details für die FET-Flaggschiff-Initiative müssen sogar noch verhandelt werden, heißt es aus Brüssel.

Das Verfahren hat unter den Wissenschaftlern auch Zweifel genährt. Wo 500 000 Euro schon als gute Förderung gefeiert werden, wächst schnell der Gedanke, dass die beiden neuen Leuchtturmprojekte mehrere andere gute Ideen finanziell austrocknen werden. Zudem geraten die beiden Projektkoordinatoren Henry Markram, ein gebürtiger Südafrikaner, und der Finne Jari Kinaret sofort unter hohen Erwartungsdruck, der Forschung gewöhnlich nicht guttut.

Zumindest Henry Markram lebt damit schon seit Jahren. Sein Projekt wird von manchen Forschern verlacht, weil sie erwarten, dass selbst die schnellsten Rechner das Gehirn mit seinen 100 Millionen Nervenzellen, die jeweils 10 000 Synapsen haben, nicht nachbilden können – und schon gar nicht die darin ablaufenden Prozesse. Man könne kaum etwas nachbilden, was bisher noch nicht bekannt ist. Der Gedanke, dass der menschliche Verstand möglicherweise von einem Haufen Silizium nachempfunden werden kann, bedeutet einen Schlag gegen das Selbstbewusstsein der Menschheit.

Tatsächlich hat Markram in seiner Projektplanung optimistisch eine sich in den kommenden Jahren verbessernde Rechnerleistung und Software schon vorausgesetzt. Was das von seiner Gruppe entwickelte Modell am Ende können wird, mag er nicht vorhersehen – er kennt es noch nicht. Pflichtbewusst sagt er, dass sich Erkenntnisse zum Kampf gegen die Volkskrankheiten Alzheimer und Schizophrenie finden lassen werden. Die Situation erinnert an den Beginn der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts, als der Begriff Spinner in Wissenschaftskreisen fast salonfähig wurde.

Markrams Pendant Jari Kinaret spürt anderen Druck. Schon heute werden 50 Millionen Euro jährlich in Graphen-Forschung investiert. Das Thema elektrisiert nicht erst seit dem Nobelpreis 2010 die ganze Welt – auch Südostasien und die USA. Europa erhofft die Marktführerschaft in der Technologie.

Graphen besitzt dank des zweidimensionalen wabenförmigen Aufbaus aus Kohlenstoff-Atomen besondere elektronische und mechanische Eigenschaften, die schon in extrem dünnen Schichten auftreten. Spätestens 2020 sollen daraus Bildschirme für Mobilgeräte hergestellt werden, die sich auch aufrollen lassen, weil sie wesentlich dünner und beweglicher sind. Der Einsatz in berührungsempfindlichen Oberflächen (Touchscreen) wird sogar noch früher erwartet. Erforscht werden aber auch neue Halbleiter, die auf weniger Platz mehr Daten transportieren, weil sich Elektronen in Graphen schnell bewegen können. Doch dafür müssen erst die Produktionsverfahren für den Wunderstoff verbessert werden.

Beide Projekte verbinden einige Hundert Forschungsinstitute und mehrere Tausend Wissenschaftler zu neuen Netzwerken, schon dieser Austausch darf als gewinnbringend bewertet werden. Gefeiert wird Montag auch in München, Jülich, Aachen und Heidelberg. Diese Standorte gehören zu den großen Knotenpunkten im Netzwerk.

(RP)
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