Stockholm Mein langer Abstieg in die Hölle

Stockholm · Der schwedische Bestsellerautor Henning Mankell schreibt in Zeitungs-Kolumnen über seine Krebserkrankung. Er steht damit in einer langen Reihe wortreich leidender Dichter.

Sie erreichen uns wie Botschaften aus einem düsteren Zwischenreich – die Worte der Dichter vom Krankenbett oder gar Sterbelager. Heinrich Heine nannte diesen Schreibort seine Matratzengruft. Wer von dort dichtet, darf sich der besonderen Wahrnehmung sicher sein. Denn kein Roman und kein noch so intensives Drama scheint uns derart tief in die Seele eines Menschen blicken und seine Ängste erfahren zu lassen, wie die authentischen Berichte eines Autors, der mit dem Tode ringt und auf das Leben hofft.

Seit zwei Wochen ist es der schwedische Bestsellerautor Henning Mankell, dem wir fast voyeuristisch unsere Aufmerksamkeit schenken. In nunmehr zwei Kolumnen für die Zeitung "Göteborgs Posten" hat der 66-Jährige von seiner Krebserkrankung berichtet, von der Diagnose sowie von seinem "zehn Tage langen Abstieg in die Hölle".

Und wie der ausgesehen hat, beschreibt Mankell schonungslos: "Kurze klare Momente der Verzweiflung. Und aller Widerstand, den ich mit meinem Willen mobilisieren konnte. Im Nachhinein kann ich nun an das Ganze wie an einen langen Alptraum denken, der keine Rücksicht darauf nahm, ob ich schlief oder wach war. Dann fing ich an, aus meinem Loch zu klettern."

Krebs habe viel mit Warten zu tun, schreibt der Autor der berühmten Krimis um den launischen Kommissar Kurt Wallander aus Ystad. Das Warten sei notwendig. Aber: "Natürlich ist da eine große Hilflosigkeit während dieses Wartens." Vor allem aber: Krebs ist unter den schweren Erkrankungen ein fast tabuisiertes Leiden. Es ist eine kaum fassbare Krankheit und wird zumeist mit einem Todesurteil gleichgesetzt. Krebs gilt darum als der "König aller Krankheiten", wie es der Arzt und Pulitzer-Preisträger Siddharta Mukherjee in seinem gleichnamigen Bestseller beschrieben hat. Es ist genau die Krankheit, vor der wir uns am meisten fürchten, auch wenn sie nicht einmal die häufigste Todesursache ist.

Am schlimmsten sei es für ihn gewesen, auf die Nachricht zu warten, ob sich die Metastase in seinem Halswirbel in sein Gehirn ausgebreitet habe. "Als Eva (Mankells Frau) und ich bei Doktor M. saßen und sie sagte, dass sie nichts in meinem Gehirn gefunden hätten, war das ein großer Augenblick der Befreiung." In den vergangenen Wochen habe er viele Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. "Jetzt, Anfang Februar, ist etwa ein Monat vergangen, seit mein Krebs entdeckt wurde. In einigen Tagen fangen meine Behandlungen in vollem Umfang an. Das erste Warten ist also vorbei", schreibt Mankell.

Es gibt kein psychologisches Rezept, wie man am besten mit solcher Lebensgefahr umgehen soll. Schriftsteller aber neigen oft dazu, genau das zu tun, was sie am besten können und womit sie sich selbst das Leben erklärt haben: mit dem Schreiben. Es ist neben der Reflexion einer bedrohlichen Situation auch die Besinnung auf die eigene Stärke. Wer schreibt, lebt. Und wer gut schreibt, scheint noch alle Lebensgeister in sich zu haben. Jedes Wort wird da zum Existenzbeweis.

Wie bei Robert Gernhardt, der seiner Krebserkrankung spöttische Verse vorsetzte – etwa über die Verabreichung der Chemotherapie: "Jeder kriegt das seine. /Nachbarmann kriegt Blut. / Schwester nennt ihn ,Draculino' / Schwester bin ich gut." Den Tod zu verlachen ist eine alte Strategie gegen das Grauen. Schon im mittelalterlichen Totentanz wurde das finale Abschiednehmen spielerisch exekutiert.

Es gibt düstere literarische Dokumente, und die schwärzesten darunter sind jene, die das Vorwort zum Selbstmord sind. Zwei deutschsprachige Schriftsteller haben sich damit essayistisch feinsinnig wie radikal auseinandergesetzt. Berühmt ist der Diskurs über den Freitod, "Hand an sich legen", von Jean Améry; ebenso Hermann Burgers "Tractatus Logico-Suicidalis". Beide Autoren waren am Ende von ihren Gedanken derart überzeugt, dass sie ihre Schriften für sich selbst als letzte "Gebrauchsanweisung" verstanden.

Gegen Ende seines Traktats macht sich der Schweizer Hermann Burger viele Gedanken über die Selbsttötung als Autor – mit diesem Befund: "Schriftsteller sein, heißt Sprache haben über den Tod hinaus. Für den Tod selbst hat er Sprache nur als Suizidant." Bei beiden hat die Macht der Selbsttötung etwas Befreiendes. Als "stieße man eine sehr schwere, in den Angeln ächzende, dem Druck widerstrebende Holztür auf, um ins Helle zu gelangen". Für ihn war der Hang zum Freitod keine Krankheit, sondern ein "Privileg des Humanen".

Solche Bücher erscheinen wie Rechtfertigungen zum Tod. Es gibt auch Bücher und Werke als Einforderung des Lebens. Der 2010 verstorbene Künstler Christoph Schlingensief setzte seiner Lungenkrebserkrankung das Tagebuch "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!" vor die Nase und widmete sich mit allen verbliebenen Kräften seinem Großprojekt Operndorf Afrika. Er wusste natürlich, dass er dieses Projekt niemals vollendet sehen würde. Doch wird es ihm Mut und Kraft gespendet haben, weil alles an diesem Projekt auf Zukunft hin ausgerichtet war. Das jüngste Beispiel stammt vom Berliner Wolfgang Herrndorf – Autor von "Tschick" –, der sich vor einigen Monaten 48-jährig das Leben nahm, nachdem bereits 2010 bei ihm ein Hirntumor entdeckt worden war.

Sein Selbstmord glich damals einer sehr bewussten Inszenierung: In den Abendstunden hatte er sich am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals erschossen. Literarische Bezüge lassen sich sofort herstellen – vor allem zu Heinrich von Kleist, der sich mit seiner krebskranken Lebensgefährtin Henriette Vogel 1811 am Kleinen Wannsee erschoss. Hatte Herrndorf einen Tod der Literaturgeschichte kopiert?

Wolfgang Herrndorf hat immer auch über eine "Exitstrategie" laut nachgedacht. Zumal eine Heilung ausgeschlossen und seine Möglichkeit, sich zu wehren oder irgendwie dagegen anzukämpfen, gering war. Herrndorf hat darüber geschrieben und davon geträumt, das Leben in einem Moment der Euphorie hinter sich bringen zu können. "Voraussetzung dafür war, dass zwischen Entschluss und Ausführung nicht mehr als eine Zehntelsekunde liegen dürfe. Schon eine Handgranate wäre nicht gegangen. Die Angst vor den drei Sekunden Verzögerung hätte mich umgebracht." Sterben wollte er nicht, zu keinem Zeitpunkt. "Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an fundamentaler Bestandteil meiner Psychohygiene."

Seit der Diagnose hatte er auch ein digitales Tagebuch geführt, "Arbeit und Struktur" nannte er den Blog, der postum vor kurzem als Buch erschienen ist. Ein bedrückender, lyrischer und sprachmächtiger, aber auch machtloser Abschied auf über 440 Seiten. Einer der letzten Eintragungen vom August 2013 lautet: "Abschied von meinen Eltern. Ich kann nichts sagen. Ich sitze neben ihnen, ich kann nicht in ihre Gesichter sehen."

Schriftsteller haben meist wortreich gelitten: klagend und verbittert, gelassen und gleichgültig. Ihr Anschreiben glich oft einem quijotischen Kampf gegen Windmühlen. Auch das hat Robert Gernhardt gewusst, aber natürlich niemals ernstgenommen: "So ein Tod geht über Leichen. / Nicht durch Worte zu erweichen."

(RP)
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