Mein gesammeltes Schweigen

Eine neue App schneidet Gesprächspausen aus Radiosendungen und Podcasts und sammelt sie. Unser Autor hat sich die Anwendung heruntergeladen. Nun freut er sich über den Vorrat an Stille auf seinem Handy.

Mein gesammeltes Schweigen
Foto: Ferl

Ich weiß ja selbst, dass das eigentlich eine ganz schlimme Sache ist, aber ich kann nicht anders. Ich habe mir eine neue App heruntergeladen. Sie heißt "Pocket Casts" und verwaltet Podcasts. Podcasts sind Radiosendungen aus dem Internet, man abonniert sie, und wer viele Abonnements hat, bekommt jeden Tag einige neue Sendungen auf das Smartphone geschickt. In Podcasts wird viel geredet, und meine neue App hat eine sogenannte Trim-Funktion, die Stille aus den Sendungen schneidet und Sprechpausen stutzt - wegen der Effektivität. 20 Stunden und 58 Minuten lang habe ich mit der App bereits Podcasts gehört, so bilanziert sie es unter "Einstellungen". Eine Stunde und 15 Minuten Stille hat sie aus dieser Zeit für mich herausgeschnitten.

Man könnte nun sagen: So ein armes Digitalisierungs-Opfer, das so etwas nötig hat! Beschleunigung, jetzt noch nöcher! Pantomimen werden die Köpfe über mich schütteln, Stummfilmregisseure winken ab, Luftgitarre-Spieler werfen ihre Instrumente auf mich. Nur die grauen Herren aus "Momo" grüßen recht freundlich. All das ist indes unangebracht.

Ich sage es mal mit Peter Handke, der in Sachen Tempomachen als völlig unverdächtig gilt: Ich lebe von den Zwischenräumen. Jeden Tag erfreue ich mich nämlich an der gesammelten Stille. An meiner Vorratskammer des Nichts. Es geht mir wie Murke, dem jungen Rundfunk-Redakteur aus Heinrich Bölls Erzählung "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen". Der schneidet im Funkhaus Gesprächspausen aus Tonbändern und bewahrt sie in einer Blechdose auf. Und seine Freundin bittet er sogar, Tonbänder für ihn zu beschweigen. Sie findet das ein bisschen schräg und würde lieber sprechen. Aber ist das nicht die allerherrlichste Liebeserklärung: jemandem beim Schweigen zuzuhören? In meinem Vorrat schweigen ganz viele Menschen, es ist eine internationale, kunterbunte und total schöne Stille-Collage.

75 Minuten Zeit habe ich bisher gesammelt. Ich betrachte sie als Destillat. Ich fühle mich ein bisschen wie jemand, der auf archaische Weise aus Meerwasser Trinkwasser gewinnt, indem er es verdunsten lässt und auffängt. Ich wringe die Gegenwart aus, um mir einen Vorrat an Zukunft anzulegen. Ein Sparbuch, auf das ich Sekunden einzahle. Ich stelle mir vor, was ich mit der Zeit mache, die nun wie unter dem Vergrößerungsglas vor mir liegt. "Musik ist die Stille zwischen den Noten", hat Debussy gesagt. Und Miles Davis war der Überzeugung, dass der Raum zwischen den Noten ebenso bedeutend ist wie die Noten selbst. Meine Stille klingt verdammt gut.

Natürlich weiß ich, dass diese App in Wirklichkeit nicht meine Zeit rafft, sondern eine fremde Zeit auf ein neues Maß bringt. Es wäre falsch, wenn ich mir anmaßte, Zeit damit zu gewinnen. Wenn ich eine Kosten-Nutzen-Rechnung anstellte, an deren Ende ich in weniger Zeit mehr erleben wollte. Will ich gar nicht. Es ist vielmehr so: Der böse Rekord wird bei mir zum freundlichen Märchen. Diese 75 Minuten sind nicht Freizeit, sondern freie Zeit, eine Zeit, die niemand unter ein Regime zwingen kann, die nie aufgeteilt und in die Raster von Stundenplan und Terminkalender gepresst wird. Sie ist sicher in ihrem Reservat, ich habe sie aus der Raserei evakuiert. Sie wird nicht totgeschlagen. Ich rühre sie nicht an, setze sie lediglich als Spielgeld ein.

Das Stille-Sammeln, dessen Ergebnis ja nur optisch da ist und nicht in echt, ist mein Coffee to go im Sitzen. Ein Akt der Subversion. Digitales Hippietum. Geistiges Goa. Ein Mahnmal. Reines Ausatmen. Wie wichtig das ist, zeigen folgende Zahlen - allesamt Beleg für die Hektik der Gegenwart: 40 Prozent der Internet-Nutzer klicken weg, wenn sich eine Seite, auf der sie etwas kaufen wollen, nach drei Sekunden nicht öffnet. Amazon verlöre einen zweistelligen Milliarden-Betrag, wenn sich der Aufbau seiner Website nur um eine Sekunde verzögern würde. Time ist hier nicht mehr nur money, sondern Dämonie.

Ich sammle Pausen, um die Ruhe zu genießen. Der Effekt ist voller Transzendenz: 75 Minuten nur für mich. John Cage hat ein berühmtes Stück komponiert, das "4:33" heißt, vier Minuten und 33 Sekunden dauert und aus reiner Stille besteht. Kein Ton, nirgends. Wobei es natürlich nie wirklich still ist, wenn man dieses Stück hört. Man nimmt zum Beispiel den Nebenmann wahr und auch das Rauschen des eigenes Blutes in den Ohren. Cage hat die Stille gleichsam aus dem Alltag geschnitten, aus dem Leben. Sein Stück ist der weiße Rahmen für andere akustische Ereignisse, ein Spiegel, der zur Selbstreflexion dienen kann. Mein Vorrat an Stille wirkt ganz ähnlich. Er ist sozusagen die Maxi-Version von Cage: "75:00".

"Das Erhabene übermittelt uns eine Ahnung unserer künftigen Freiheit", schrieb Kant. Insofern wirkt mein Zeitvorrat durchaus erhebend. Traumhafter Reichtum, sozusagen. Virtueller Eskapismus. Touristenvisum fürs Reich der Stille. Glänzender Schatz. Silence is golden. Und wer mich nun gern mal grundlegend und ausführlich belehren würde, weil er meint, ich machte mir doch selbst etwas vor und gäbe mich bloß Illusionen hin, der möge das tun.

Ich habe Zeit.

(hols)
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