Experten forschen nach Ursachen Massenpanik lässt sich vorausberechnen

Düsseldorf · Was geschieht, wenn eine große Menschenmenge in Panik gerät? Experten versuchen nun herauszufinden, was sich genau bei der Loveparade in Duisburg abspielte, als 20 Menschen im Gedränge starben. Detaillierte Videoanalysen mit Computern sind erst in jüngerer Zeit möglich.

Tragödien bei Großveranstaltungen
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Foto: ddp

Es sind Bilder des Schreckens, wenn in einer großen Menschenmenge Panik ausbricht. Bilder von Tragödien, die hinter jedem Opfer einer Massenpanik stehen. Bilder, die Forscher vermeiden wollen. Doch dafür müssen sie verstehen, was genau bei einer Massenpanik passiert. Auf den ersten Blick scheint es Ähnlichkeiten mit einem Stau zu geben. Doch es liegen Welten zwischen einem Verkehrskollaps und einer Menschenmenge, die sich voller Angst vor einem möglichen Ausgang staut. Denn erstens können Autos anhalten, Menschen voller Panik dagegen sind immer in Bewegung und bleiben fast nie stehen. Und zweitens fahren Autos in der Regel im Stau nicht aufeinander auf, sondern halten einen Mindestabstand. Genau das aber tun Menschen bei einer Massenpanik nicht. Die Kräfte, die dabei wirken, sind enorm: Umgerechnet können es bis zu 445 Kilogramm auf einen Meter sein. Das reicht, um Mauern einzureißen und Stahl zu verbiegen. Und es reicht bei weiten, um den Einzelnen in der Masse quasi einzuschnüren und zu erdrücken — ohne Chance sich gegen die Masse zu stemmen oder zu befreien.

Das Verhalten der Einzelperson in einer großen Gruppe mathematisch zu modellieren, ist schwierig. Dafür spielen die Geschwindigkeit und die Richtung, in der er sich bewegt, ebenso eine Rolle wie die Geschwindigkeit und Richtung der Masse. Dazu kommt, dass es in der Natur des Menschen liegt, einen Mindestabstand zu anderen zu wahren. Das heißt, kommen einem Menschen zu nahe, weicht man reflexhaft aus — oder drückt sie von sich. Zudem hängt das noch von der Richtung ab, aus der sich Menschen nähern. Von hinten lässt man sie sehr viel eher an sich heran, als von vorne. Alles voneinander abhängige Daten, die sich innerhalb von Sekunden immer wieder verändern. Mit Videoanalysen von katastrophalen Massenpaniken aber wie beispielsweise in Mina bei Mekka am 12. Januar 2006 und Supercomputern ist man mittlerweile unter anderem an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich mit dem Soziologen Dirk Helbing, der bereits in Budapest mit einem Team die Massenpanik erforschte, einen großen Schritt im Verständnis der Zusammenhänge weitergekommen.

Wenn es nur einen Ausgang gibt, und die Menschenmenge dorthin strebt, dann können immer weniger Menschen einen Bereich verlassen. Das klingt zunächst trivial. Doch in einer Simulation konnte man das zum ersten Mal im Detail verfolgen und daraus die Dynamik ableiten. Der Grund für das Verhalten: Staut sich die Menge vor dem Ausgang und drängt sie von allen Seiten darauf zu, stehen sich alle buchstäblich selbst im Weg. Aber eben weil es so langsam weiter geht, wird die Gruppe immer schneller und behindert sich so immer mehr. Das heißt, je schneller die Gruppe wird, desto langsamer löst sie sich auf. Und weil immer mehr Menschen immer stärker drücken, wachsen auch die wirkenden Kräfte und nimmt die Panik zu. So sehr, dass Menschen getötet werden können.

Selbst wenn man den Weg an einer Stelle verbreitert, also der Menschenmenge mehr Platz gibt, bedeutet das nicht unbedingt ein Ende der Panik. Zum einen versuchen einige, nun auszuweichen und den größeren Raum zu nutzen. Wenn sie dann aber auf eine Wand stoßen, drehen sie um und laufen wieder in die Menge. Die Bewegung der Masse wird dadurch nur chaotischer. Dazu kommt, dass einige auch versuchen, nun schneller voranzukommen - um der Masse zu entkommen. Dadurch können sich aber punktuell neue Verdichtungen bilden. Sie wirken wie ein Hindernis, auf das die Menge nur auf eine Art reagiert: Sie wird schneller und drückt noch stärker nach vorne. Mehr Platz heißt darum nicht unbedingt mehr Sicherheit.

Ähnlich ist es bei mehr als einem Ausgang. Denn bloß, weil man an mehreren Stellen der Situation entkommen kann, bedeutet es nicht, dass die Menge das auch tut. Vielmehr kann sich vor einem Ausgang ein Stau bilden. Weil aber die Masse sich vor allem an sich selbst und ihrer eigenen Bewegung orientiert, strömt sie weiter dort hin — obwohl es dort kein Entweichen gibt. Die Panik wächst — selbst wenn an anderer Stelle ein offener Ausgang ist.

Eine wichtige Größe für eine potenzielle Gefahr ist nach den Simulationen die lokale Menschendichte, nicht unbedingt die durchschnittliche der Menschenmenge. Als Faustregel gilt nach den Berechnungen, dass die lokale Dichte doppelt so groß ist wie die durchschnittliche. Ein kritischer Punkt liegt bei sechs Menschen pro Quadratmeter. Dann nimmt die Bewegung der Menschen an diesem Punkt um den Faktor drei ab. Das heißt, an diesem Punkt bewegen sich die Menschen nur noch extrem langsam vorwärts im Vergleich zur Masse. Dadurch aber nimmt die Menschendichte an diesem Punkt weiter zu. Erreicht sie zehn Personen pro Quadratmeter, dann führt das zu Störungen, die die gesamte Gruppe beeinflussen können. Wie bei einem Erdbeben breiten sich dann die Stop-and-Go-"Schockwellen" aus. Es kommt an immer mehr Punkten zu lokalen Verdichtungen.

Menschen laufen auf sie auf, dadurch aber können punktuell noch mehr Personen auf engem Raum gedrückt werden. Wenn das aber passiert, kann aus der halbwegs gerichteten Bewegung der Menge reinstes Chaos werden. Um sich Platz zu schaffen, drücken die Menschen andere von sich — die dann wieder von anderen in die entgegengesetzte Richtung gedrückt werden. "Menschen stürzen, und es ist zu diesem Zeitpunkt so gut wie unvermeidbar, dass sich die Menge über sie wälzt, da niemand mehr die Kontrolle über seine Bewegung hat. Jeder wird von der Menge geschoben und hin- und hergeworfen", sagt Helbing. Diese Situation wird durch gegenläufige Fussgängerströme noch weiter verschärft. Das könnte auch in Dusiburg zum tödlichen Ende geführt haben.

Aus den Berechnungen ergeben sich aber auch mögliche Ansatzpunkte, um eine Massenpanik im Keim zu ersticken. Beispielsweise eine Säule, die asymmetrisch vor einem Gang steht, durch den Menge sich bewegen muss. Denn allein dieses Hindernis bricht die Welle aus Menschen und sorgt dafür, dass der Strom sich etwas langsamer bewegt. Die Gefahr von kritischen Verdichtungen wird so kleiner. Ein ausgeklügeltes System von Einbahnstrassen könne zudem Abhilfe schaffen, so Helbing. Umleitungen zu anderen Zugängen, flächendeckende Informationen zu den Notausgängen und spezielle Trainings für Sicherheitskräfte seien weitere Massnahmen, um Massenpaniken vorzubeugen. Auch ist es heutzutage möglich, den Besucherfluss einer Veranstaltung vorab am Computer zu simulieren, um so ein Gefühl für die möglichen Problemzonen zu gewinnen. Das ist jedoch gerade für Grossveranstaltungen relativ aufwändig und immer noch mit Unsicherheiten verbunden, wie Helbing erklärt.

(RPO)
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