Feinmotorik leidet unter digitalem Wandel Wer nicht schreibt, bleibt dumm

Düsseldorf · Immer mehr Kindern fällt es schwer, mit der Hand zu schreiben. Das hat viel mit dem digitalen Wandel zu tun, aber auch mit der Ausbildung der Lehrkräfte, die nicht immer auf individuelle Probleme der Schüler eingehen können.

 Eine Grundschülerin übt Schreibschrift (Archivfoto).

Eine Grundschülerin übt Schreibschrift (Archivfoto).

Foto: dpa/Jan Woitas

Die Schrift eines und einer jeden von uns ist einzigartig. So individuell, dass sie auch als Fingerabdruck dienen könnte. Umso tragischer ist es, dass Lehrkräfte aus zahlreichen europäischen Ländern Alarm schlagen: Ihren Schülern falle es zunehmend schwer, mit der Hand zu schreiben. Diesen Befund bestätigte vor einigen Monaten auch eine Studie des Schreibmotorik-Instituts in Heroldsberg. Demnach gaben Grundschullehrer an, dass 37 Prozent ihrer Schüler Probleme mit dem Schreiben hätten. Lehrkräfte von weiterführenden Schulen sehen sogar bei 43 Prozent der Schüler Schwierigkeiten.

Es ist nicht so, dass die Menschheit verdummt und deshalb das Schreiben verlernt. Wir tun es, weil wir es seltener machen. Das Tippen oder das Wischen hat das Schreiben weitgehend abgelöst. Kinder schreiben bereits in sehr jungen Jahren mit nur wenigen Fingern auf dem Smartphone Textnachrichten. Das Schreiben mit der Hand wird außerhalb der Schule nur noch sehr selten gefordert, die eigene Unterschrift ausgenommen. Und bei der reicht es nun mal aus, wenn der Name vollständig, aber nicht unbedingt leserlich wiedergegeben wird.

Man könnte das Aussterben unserer Schreibfähigkeiten also leicht der Digitalisierung zuschreiben. Und ja, sie hat sehr viel damit zu tun. Doch das Problem ist vielschichtiger. „Das richtige Erlernen der Handschrift ist bis heute leider nicht einheitlich Teil der Lehrerausbildung“, sagt Marianela Diaz Meyer, Leiterin des Schreibmotorik-Instituts. Eine Umfrage unter Lehrern ergab, dass viele nicht das Gefühl haben, das nötige Rüstzeug im Studium zu bekommen, um ihren Schülern eine flüssige und leserliche Schrift beizubringen. „Wie sollen wir den Kindern das Schreibenlernen beibringen, wenn den Lehrkräften schlicht die Zeit fehlt, sie individuell zu unterstützen?“, fragt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung.

„Lehrer sollten mit den Kindern intensiver über deren Handschrift sprechen“, sagt Diaz Meyer. „Sie müssen den Kindern zeigen, was das Ziel ist: nämlich eine individuelle, leserliche Schrift. Dafür können die Kinder ruhig auch mal schnell und mal langsam schreiben. Man sollte sie spielerisch an die eigene Schrift heranführen.“ Doch derlei Lehrtechniken würden nicht vermittelt, bemängelt die Wissenschaftlerin.

Feinmotorik: Kindern fällt es schwerer mit der Hand zu schreiben
Foto: GRAFIK: RP

Schule ist Ländersache. Deswegen ist die Regelung zur Handschrift in den Grundschulen in Deutschland sehr unterschiedlich. Während beispielsweise Schleswig-Holstein wieder zur gebundenen Schreibschrift zurückgekehrt ist und die dortige Bildungsministerin Karin Prien ein verstärktes Training verfügt hat, setzt man in Nordrhein-Westfalen auf die Druckschrift. Sie sei auch die Schriftform, die am besten helfe, die Wörter zu gliedern, heißt es im Bildungsportal des Schulministeriums: „Aus der Druckschrift entwickeln die Schülerinnen und Schüler eine gut lesbare und flüssige persönliche Handschrift.“ Für das Erlernen einer geeigneten Handschrift sind damit nicht die Lehrer, sondern die Schüler selbst verantwortlich. Da sich diese aber kaum noch mit ihrem eigenen Schriftbild außerhalb der Schule beschäftigen, verlieren sie die motorischen Fähigkeiten. „Die Kinder sind heute nicht mehr in der Lage, 30 Minuten am Stück ohne Beschwerden zu schreiben. Ihnen fehlt zudem häufig die Lust“, sagt Diaz Meyer.

Vor allem Erwachsene entdecken das Handschreiben entgegen aller Horrorszenarien jedoch neu. Das zeigen auch zahlreiche „Handlettering“- und Kalligraphie-Kurse, die vor allem über Instagram und Youtube angeboten werden. Das Schönschreiben wird zum Hobby.

Aber brauchen Kinder und Erwachsene heutzutage überhaupt noch eine leserliche und flüssige Handschrift? Die Wissenschaft hat darauf eine eindeutige Antwort: ja. „Wir denken mit der Hand“, sagt Diaz Meyer. „Beim Schreiben sind 17 Gelenke im Einsatz, 30 Muskeln arbeiten mit. Es werden zwölf Gehirnregionen angesprochen, in denen auch die Fähigkeit geformt wird, Informationen aufzunehmen.“ Die Feinmotorik beim Schreiben beeinflusst unsere Art zu denken viel intensiver als das Tippen auf der Tastatur. Motorische Übungen führen also zu einer höheren kognitiven Leistungsfähigkeit. Und das ist in Zeiten, in denen wir durch die sozialen Netze, Smartphones und das Internet einer Reizüberflutung ausgesetzt sind, eine wichtige Eigenschaft, um Schritt zu halten.

Feinmotorik: Kindern fällt es schwerer mit der Hand zu schreiben
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Buchstaben und Formen prägen sich durch die Handschrift besser ein. Einmal geschrieben ist so gut wie zehnmal gelesen. Das beweist auch ein Experiment der Psychologen Pam Mueller und Daniel Oppenheimer an der Princeton University. Sie zeigten Studenten einige Videovorträge. Die eine Gruppe durfte sich Notizen ausschließlich mit der Hand machen, die andere nur per Tastatur auf dem Laptop. Anschließend wurde abgefragt, was die Studenten von den Vorträgen behalten hatten. Hierbei waren beide Gruppen noch weitgehend gleichauf. Doch als es um Verständnisfragen ging, konnte die Gruppe mit den handschriftlichen Notizen bessere Ergebnisse erzielen. Die Tastaturschreiber hatten die Vorträge fast wortwörtlich mitgeschrieben. Sie waren schneller, durchdrangen das Geschriebene aber nicht so wie die langsameren Handschreiber.

Um die Handschrift in den Schulen und damit auch später im Erwachsenenalter zu retten, veranstaltet das Schreibmotorik-Institut derzeit ein internationales Symposium in Berlin. Wissenschaftler und Pädagogen aus mehreren europäischen Ländern diskutieren dort über die aktuellen Forschungsergebnisse. „Der Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt führt über das Schreiben und Lesen“, sagt Diaz Meyer: „Wir sehen, dass hochmoderne Unternehmen der Robotik die Produkte der Zukunft mit handschriftlichen agilen Methoden und Konzepten entwerfen und entwickeln.“ Die Basis dafür sei eine flüssige, leserliche und ermüdungsfreie Handschrift. Auch der Digital-Experte Christian Barta von der Hochschule Ansbach vertritt die These: „Die Visualisierung in digitalen Medien fängt mit Handschreiben an.“

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