Erdüberlastungstag Ab heute gerät die Ökologie ins Minus

Analyse | Düsseldorf · Waldbrände, verschmutzte Gewässer und kaputte Böden: Am 28. Juli 2022 ist Erdüberlastungstag. Über Bedeutung und Bestimmungsmethode des Tages sind Experten uneinig. Wie genau er berechnet wird – und warum er nötig ist.

 Nicht Spanien, nicht Italien: Auch im Süden Brandenburgs sind Feuerwehrkräfte im Einsatz.

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Foto: dpa/Jan Woitas

Die Waldbrände derzeit sind buchstäblich ein flammendes Signal. Ob in Südbrandenburg, der Sächsischen Schweiz, in Spanien, Frankreich, Italien oder Griechenland. Zweimal die Fläche des Saarlands haben Brände in Südeuropa diesen Sommer bereits vernichtet: Boden, der lange Zeit nicht mehr für die Regeneration der Natur zur Verfügung steht. Hinzu kommen die Versiegelung von Flächen, die intensive Landwirtschaft und fehlende Regenwälder, die den Klimaeffekt aufhalten könnten.

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Foto: RP/Ninh, Phil

Keine Frage, der Mensch lebt stärker von der Substanz der Natur, als er ihr wieder zurückgeben kann. Die Ökologen des Netzwerks Globaler Fußabdruck (Global Footprint Network) haben ausgerechnet, ab wann die Menschheit bei der Natur im Obligo steht. Es ist im Jahr 2022 der 28. Juli, der Erdüberlastungstag. Danach treiben wir Raubbau. Schlimmer noch: Der Tag rückt von Jahr zu Jahr nach vorne. Im Jahr 2000 war es der 25. September, 20 Jahre davor der 8. November. Im Gleichgewicht war die Welt zuletzt nur 1971. Seither wachsen die Schulden an der Natur.

Der Umweltökonom Martin Kesternich vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim sieht den Ansatz des Erdüberlastungstags grundsätzlich als wichtiges Signal. Allerdings sei es eine „große Herausforderung, ein genaues Datum zu nennen”. So würden die Modellrechnungen auf zahlreichen Annahmen beruhen, unter anderem auf die Abschätzungen über die verfügbaren Ressourcen, die Entwicklung der Ressourceneffizienz oder der Ersetzbarkeit der verschiedenen Ressourcen bei entsprechenden Preisen. Auch aus landwirtschaftlicher Perspektive wird Kritik an der Methode laut. So äußert der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands Bernhard Kruesken methodische Bedenken und merkt an: „Das Vorgehen ist methodisch nicht ganz nachvollziehbar, da die Landwirtschaft Ressourcen nicht nur verbraucht, sondern auch produziert.“ Laut Kruesken sei der menschliche Verbrauch von Öl, Gas und anderen nicht-biologischen Rohstoffen im Vergleich zu landwirtschaftlicher Erzeugung riesig und müsse mit eingerechnet werden.

Das Konzept des „Overshoot Day“ ist der Wirtschaft entnommen. Die Natur wird als Vermögen betrachtet, das über die Regeneration Zinsen bringt, aber bei zu großen Entnahmen jährlich schwindet. Wenn Böden erodieren, zu hohe Emissionen die weltweiten Temperaturen erhöhen oder Monokulturen die Artenvielfalt verringern, geht ein Stück dieses Vermögens unwiederbringlich verloren. Die Wissenschaftler des ökologischen Netzwerks verdichten dabei ähnlich wie bei einer Währung die Naturschäden und die Regenerationsfähigkeit auf einen einzigen Wert, den globalen Hektar pro Kopf. Sind genügend Ressourcen vorhanden, gelingt die Regeneration. Dann entspricht die Bio-Kapazität gemessen in Hektar dem Verbrauch. Das Naturvermögen bleibt gleich. Wenn nicht, ist die Abnutzung übermäßig.

Nach den aktuellen Zahlen wirtschaften wir global so, als ob wir 1,75 Erden bräuchten. Die Bewohner Katars (2,6 Millionen) kommen auf die Rekordzahl von neun Planeten, die USA auf 4,5, die Deutschen immerhin noch auf drei. Würden alle Menschen in die Natur so eingreifen wie die Einwohner der Bundesrepublik, wäre der Erdüberlastungstag schon am 4. Mai. Ausgewertet für die Rechnung werden 15.000 Datensätze, die die Vereinten Nationen erheben. Und die verfügen über die beste Statistik bei globalen Vergleichen.

Der Ansatz findet aber auch Kritik. Eine Gruppe von Wissenschaftlern um den US-Anthropologen Michael Shellenberger wirft den Ökologen falsche Messmethoden und ein irreführendes Konzept vor. Die Übernutzung der Meere sei nur das Ergebnis einer falschen Zählung der Fische, die sich auch schneller regenerieren würden als die ansonsten als zuverlässig eingeschätzten UN-Zahlen ausweisen. Die Nutzung von Acker- und Weideland beanspruche die Böden grundsätzlich nicht so, dass sie sich nicht erholen könnten. Die Wissenschaftler des Netzwerks verweisen dagegen auf den Raubbau der Monokulturen und die Verringerung der Artenvielfalt, die seit Beginn der 70er-Jahre nach Einschätzung renommierter Biologen wie von Edward Osborne Wilson bereits um die Hälfte geschrumpft sei. Nach Forschungen des im vergangenen Jahr gestorbenen „Vaters der Artenvielfalt“ dürfte der Mensch nur die Hälfte einer Erde verbrauchen, um 85 Prozent der Biodiversität zu erhalten.

Wie rasant der Verlust der Artenvielfalt verlaufe, mahnt auch Christoph Bals von der Umweltorganisation German Watch an: „Seit 1980 geht der Bestand der Hälfte der Vogelarten deutlich zurück. Ein Drittel der Ackerwildkräuter ist gefährdet. 41 Prozent der Wildbienenarten sind in ihrem Bestand gefährdet.“ Als größte Gefährdung der Ressourcen sieht er die fossile Energieversorgung, den immensen (Flug)Verkehr und den hohen Konsum von Fleisch- und Milchprodukten. Schnelle Abhilfe brächte Bals Überzeugung nach: „Raus aus Kohle, Öl und Gas. Die Zahl der Nutztiere an die in Deutschland verfügbare Fläche koppeln. Weniger Auto- und Flugverkehr, dafür mehr ÖPNV und Fahrradfahren.“ Langfristige Lösungen scheinen schwieriger. Dem Ukraine-Krieg und dem vage formulierten Koalitionsvertrag sei Dank.

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