Wahrheit und Lüge Jetzt mal ehrlich

Wie spricht man mit Menschen über Dinge, über die sie nicht sprechen wollen? Wer erinnert sich freiwillig an seine Lügen oder hinterfragt seine Werte? Die Geschichte einer Recherche mit Misserfolgen und guten Begegnungen.

 Gustl Mollath: 2005 in die Psychiatrie eingewiesen, 2014 nach diversen Verfahren und Verfahrensfehlern freigesprochen. Wie denkt Mollath über Lüge und Wahrheit? Eine Anfrage bleibt unbeantwortet.

Gustl Mollath: 2005 in die Psychiatrie eingewiesen, 2014 nach diversen Verfahren und Verfahrensfehlern freigesprochen. Wie denkt Mollath über Lüge und Wahrheit? Eine Anfrage bleibt unbeantwortet.

Foto: dpa, ebe kno

Du sollst nicht lügen. Wenn du dieses Verbot missachtest und dabei erwischt wirst, giltst du als unglaubwürdig. Du kannst Deinen Job, Deine Frau, Deinen Titel verlieren. Dabei ist die Lüge so vielschichtig wie das Leben. Es ist nicht immer einfach zu unterscheiden, ob sie gut oder böse ist. So einfach wie es uns das Lügen-Gebot zu vermitteln versucht, ist es meist nicht. Die Geschichten, die uns auf der Suche nach Wahrheit und Lüge begegnet sind, zeigen genau das.

Ist Shayan Mokrami ein Lügner? "Natürlich bin ich das. Wir sind doch alle Lügner", sagt der Jura-Student, der mit seinen Freunden vor der Bibliothek auf dem Campus der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf steht. Vor allem als Jugendlicher habe er häufig gelogen, wenn er etwa in der Schule etwas kaputtgemacht und es einem anderen in die Schuhe geschoben habe. Der 19-Jährige spricht über Wahrheit und Lüge wie über das Mensaessen, spricht die Dinge gerade heraus aus. Er glaubt, dass nicht jede Lüge gleich schlimm ist: "Wenn ich meine Freundin betrüge, dann ist das sehr schlimm." Erfundene kleinere Lügengeschichten aus der Kindheit seien weniger gravierend. Das Ausmaß der Lüge sei entscheidend. Wenn aber alle Menschen, wie Mokrami sagt, Lügner sind, dann wird auch jeder belogen. Da hält es Mokrami mit dem Spruch "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Wobei: "Wenn die betrogene Freundin herausfindet, dass sie betrogen wurde, verletzt das doch sehr." Wenn man wirklich eine schlimme Lüge erzähle, fühle man sich aber auch nicht gut. Während sich dann aber höchstens das schlechte Gewissen in Form eines Stiches im Magen meldet, scheint belogen zu werden, ins Mark zu treffen, wenn man ihm folgt.

Die Lüge und ihre Folgen scheinen aber vor allem dann Menschen hart zu treffen, wenn sie im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Frei nach der Fallhöhen-Theorie im Drama: Je höher der Status, desto tiefer der Fall. Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg mit seiner Doktorarbeit ist ein Beispiel. Oder Christian Wulff. Sebastian Edathy. Uli Hoeneß. Christoph Daum. Bekannte Menschen, von denen wir glauben, sie beim Lügen erwischt zu haben, die sich irgendwo in diesem Bereich zwischen der kleinen Unwahrheit und der großen Lüge bewegt haben. Was sagen sie zur Wahrheit und zur Lüge, was ist der Grenzbereich? Wie bewerten sie ihre eigene Geschichte, in Zeiten, in denen Männer, die nachweislich gelogen haben, Außenminister von Großbritannien und Präsident von Amerika werden können? Entsprechende Anfragen unserer Redaktion lassen die meisten von ihnen unbeantwortet, lassen sie ablehnen oder lehnen sie wie Sebastian Edathy persönlich ab. Sie reden nicht.

Lothar Hörning redet. Er war Karnevalsprinz in Düsseldorf, ist Mitbegründer des schwul-lesbischen Karnevalsvereins KG Regenbogen. Und er ist homosexuell. Sein Leben war allerdings nicht immer so: Vor seinem Outing vor 20 Jahren war der 55-Jährige mit einer Frau verheiratet, hat mir ihr zwei Söhne. Hat er also vorher eine Lüge gelebt? "Nein", lautet die klare Antwort. Bis zu seinem 35. Lebensjahr sei er nicht homosexuell gewesen. "Dann gab es eine Begegnung auf einer Party, bei der ich irgendwann gemerkt habe, dass ich mehr als Freundschaft fühle." Das Gefühl, anders zu empfinden, das gleiche Geschlecht anziehend zu finden, es begleitete ihn ab diesem Zeitpunkt sieben Jahre lang. "Natürlich war es in dieser Zeit nicht immer da, das Gefühl kam in Wellen. Aber es war da. Ich bin aber auch nicht von heute auf morgen bewusst schwul geworden, das war ein Prozess", sagt er. Ein Prozess, an dessen Ende sich Lothar Hörning für ein Outing entschied, sich scheiden ließ, aus seiner Heimatstadt Bocholt wegzog und ein neues Leben in Düsseldorf begann. "Ich habe lange über mein Leben nachgedacht. Als ich dann aber meine Entscheidung gefällt hatte, ging alles ganz schnell: Dann habe ich innerhalb von zwei Wochen alles verändert." Weil er zu dem Zeitpunkt, als er sich endgültig sicher war, schwul zu sein, sofort handelte, habe er gar nicht die Gelegenheit gehabt, sich selbst zu belügen. Deshalb sei er mit sich im Reinen. Auch wenn sein Leben nach dem Outing nicht immer einfach war, ist er heute glücklich, erzählt stolz von seinen erwachsenen Söhnen. Hörning hat der Lüge in seinem Leben keine Chance gegeben.

Es gibt aber auch noch jene Menschen, die zwar der Lüge bezichtigt werden, dabei aber die Wahrheit gesagt haben. Der schlimmste Fall dabei ist, vor Gericht zu Unrecht verurteilt zu werden. Unschuldig hinter Gittern, der Lüge bezichtigt, weil keiner die Wahrheit glauben will - das ist ein vielgenutztes Motiv in Film und Literatur. Es kommt aber auch im wahren Leben immer wieder vor. Ein Beispiel ist der Fall Gustl Mollath: Wegen schwerer Körperverletzung und Freiheitsberaubung seiner Frau angeklagt, wurde er 2005 in die Psychiatrie eingewiesen. Immer hatte er seine Unschuld beteuert. Nach diversen Verfahren und Verfahrensfehlern wurde er schließlich 2014 nach einer langen Odyssee freigesprochen. Wie denkt Mollath über Lüge und Wahrheit? Eine Anfrage bleibt unbeantwortet.

Anika Wurth studiert Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität. Das Wort "Lüge" mag die 28-Jährige nicht. "Ich sage immer lieber flunkern, lügen klingt gleich so schlimm", sagt sie. Und flunkern würde sie in der Tat ab und an. Wenn sie zum Beispiel ihrer Mutter auf die besorgte SMS am Abend antworte, dass sie bereits zu Hause sei, damit sich die Mutter keine Sorgen macht. Dann flunkere sie. Aber das sei schon in Ordnung, das sei schließlich eine gute Lüge, aus einem gutem Willen heraus getätigt. Gute Lügen, schlechte Lügen: Wurth unterscheidet das sehr klar. "Ich habe zum Beispiel auch lange in einem Krankenhaus gearbeitet und habe todkranke Menschen betreut. Da war es stets ein Thema, wie viel Wahrheit ein Patient ertragen kann, wenn es um die verbleibende Lebenszeit geht." Einige Menschen brächen zusammen, wenn sie erführen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie verlören dann jeden Lebensmut, ließen sich vollkommen hängen. "Da habe ich mich immer gefragt, ob man da wirklich die volle Wahrheit sagen sollte. Sollte man nicht statt eines konkreten Zeitpunktes nur einen ungefähren Zeitraum nennen? Dann kann man die Zeit vielleicht mehr genießen." Am Ende seien die Mediziner immer vollends ehrlich gewesen, so Wurth. Ihre Skepsis aber bleibt.

In Zeiten, in denen Menschen durch die Straßen laufen und "Lügenpresse" rufen, in Zeiten von Fake News, die sich binnen Minuten über Facebook, Twitter und Co. auf der ganzen Welt verbreiten, müssen sich auch Journalisten einmal mehr die Frage stellen, wie sie ihrer Sorgfaltspflicht ausreichend nachkommen können. Gespräch mit RP-Chefredakteur Michael Bröcker: "Wann haben Sie das letzte Mal gelogen?" - "Weiß ich nicht. Wahrscheinlich gerade", sagt er. Deutlicher wird er mit Blick auf den Kampf gegen die Zeit, den vor allem Online-Journalisten täglich ausfechten. "Das journalistische Handwerk, das akkurate Arbeiten muss für uns alle Priorität haben, trotz Zeitnot", sagt er. Wenn wir Journalisten uns dem Vorwurf der Lügenpresse nicht aussetzen wollten, müssten wir noch genauer hinschauen, noch genauer recherchieren - und unsere Geschichte dann schreiben, wenn wir sehr, sehr sicher seien. "Die Eilmeldung ist nicht die beste Form des Journalismus'", so Bröcker. Anders, als es vielleicht in anderen Lebensbereichen ist, gelte für Journalisten aber unter jeder Bedingung: Du sollst nicht lügen.

Manchmal ist der Fall also doch deutlich, ist die Position zu Wahrheit und Lüge klar definiert. Doch das ist eben nicht immer der Fall: Oft ist die Lüge nicht so schlecht wie ihr Ruf und die Wahrheit nicht so gut, wie ihr Ruf uns glauben macht. Eines zeigt der Blick auf diese beiden alles und nichtssagenden Begriffe jedoch auf jeden Fall: Die spannendsten Geschichten liegen zwischen Lüge und Wahrheit und in der Antwort auf die Frage, warum man sich für eines von beidem entscheidet.

(lai)
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