Jedem Baby eine Klassik-CD

Kein Geiz: Ein Orchester aus Glasgow schenkt jedem neuen schottischen Baby eine CD mit klassischer Musik. Das ist klug gedacht, denn frühe Höreindrücke sind bei jedem Neugeborenen prägend für das weitere Leben. Wenn die Eltern sonst Pop oder Rock hören, schadet das nicht.

Glasgow Eine wirklich entzückende Neuigkeit: Das Royal Scottish National Orchestra (RSNO) mit Sitz in Glasgow setzt zur Mobilisierung des künftigen Konzertpublikums sehr früh an. Es schenkt jedem Neugeborenen des Landes eine CD.

Diese CD heißt "Astar" – was man auch als "A star", also "Ein Stern" lesen kann – und bietet traditionelle schottische Songs, Kinderlieder und kindgerechte Musik von Mozart, Tschaikowski und Debussy; mit Hilfe der Einwohnermeldeämter Schottlands wird sie gratis verteilt. Begründung für die großzügige Geste: Musik, so das Orchester, habe einen positiven Einfluss auf die Stimmung, Beziehungsfähigkeit und Bewegungskoordination der Kinder.

Das stimmt alles, ist aber als Hauptgrund für Produktion und Verteilung der CD wohl nur die halbe Wahrheit. Ganz wesentlich geht es ums Marketing bei den Eltern als den potenziellen Kunden. Die britischen Orchester kämpfen wie viele Klangkörper um neue Zuhörer. Der Altersdurchschnitt des Publikums hat sich zwar nach europaweit verheerenden Werten Anfang der 2000er Jahre wieder verbessert, weil das Thema Erziehung an Gewicht gewann. Trotzdem zeigen Umfragen, "dass bei den Jahrgängen ab 1945 das Interesse an der klassischen Musik im Laufe des Lebens nicht gestiegen, sondern im Gegenteil gesunken ist und viele sich von der E-Musik abgewandt" haben.

So formuliert es der Musikwissenschaftler Roland Eberlein, ohne aber zu ergänzen, dass immer weniger Menschen der verschiedenen Nachkriegsgenerationen überhaupt je einen Weg zur Klassik gefunden haben. Wo nichts ist und nichts war, kann auch nichts sinken. Das ist keine Frage des persönlichen Willens, sondern der Neuropsychologie. Menschen wollen wieder und wieder das hören, was sie bereits kennen. Das Belohnungssystem im Gehirn operiert so, dass es Glückshormone nicht erst ausschüttet, wenn vertraute Musik erklingt, sondern schon dann, wenn die Platte aufgelegt oder die Konzertkarte gekauft wird.

Gehirnforscher wissen zudem, dass sich frühe Berührungen der Hörrinde im Gehirn festsetzen. Sollten die Eltern ansonsten Pop oder Rock hören, ist das nicht kontraproduktiv. Jedoch sollte Musik – das gilt auch für ungeborene Kinder – nicht zu laut gehört werden, weil sich akustische Reize im Fruchtwasser übertragen und bereits dem Embryo Stress bereiten können.

Dass die Platte lauter angenehm zu hörende Musik enthält, ist gewiss kein Zufall. In der Musikpsychologie ist bekannt, dass sie sogar Schmerzen oder Missempfindungen lindern kann – auch bei ganz kleinen Erdenbürgern. Der Psychologe George B. Stefano hat in einer Studie den direkten Zusammenhang zwischen entspannendem Musikhören und der Konzentration von körpereigenen Opiaten im Blut der Probanden nachgewiesen. Das ist der Grund, warum Musik einen tatsächlich "high" oder süchtig machen kann – sie wirkt im Gehirn an denselben Stellen, an denen auch Drogen wirken.

Hier setzt "Astar" an. Die CD senkt zum einen die Hemmschwelle und die Berührungsangst bei Klassik, zum anderen macht sie klar, dass Musik etwas mit dem täglichen Leben zu tun haben kann. Wie immer ist die Erstbegegnung von prägender Natur. Die ersten Reaktionen schottischer Eltern waren enthusiastisch. Das Zielpublikum konnte natürlich noch nicht empirisch befragt werden.

Hierzulande sind ähnliche Motivationen und Effekte der Bemühung ums musische Kind bekannt. Die Düsseldorfer Tonhalle wurde unlängst für ihr Jugendprogramm ausgezeichnet, sie bietet sogar Musik für Schwangere an, für Neugeborene, für Kinder unter fünf und so weiter. Irgendeines Tages wird sie auch Kuschelprogramme für Liebende anbieten, die Nachwuchs in Erwägung ziehen.

Überhaupt haben Kinderkonzerte ja Konjunktur, und wie überall sind sie überlaufen, überbucht; man könnte die Abonnements verdoppeln und würde trotzdem nicht alle Begierigen befriedigen können. Die verteilen sich längst auf drei Generationen: Kinder, Eltern, Großeltern. Mancherorts gehen ganze Großfamilien ins Konzert und genießen es als einzigartiges Gemeinschaftserlebnis.

Die Niederrheinischen Sinfoniker haben vor einigen Jahren eine wunderbare Konsequenz aus diesem Umstand gezogen, sie haben mit keiner Geringeren als Nina Hagen als Sprecherin "Die Reise zur Schneekönigin" als musikalisches Wintermärchen aufgenommen, mit Musik aus Tschaikowskis "Nussknacker"-Suite. Die Platte, dirigiert vom früheren Generalmusikdirektor Graham Jackson, gelangte in die Reihe "Little Amadeus" und wurde ein Erfolg; derzeit gibt es sie nur noch antiquarisch.

Auch alle anderen wichtigen Orchester ringsum lassen sich immer wieder etwas Neues einfallen, um des Nachwuchses habhaft zu werden. Schnuppergastspiele von Orchestermusikern in Schulen werfen allenthalben erstaunliche Früchte ab. Erfindungslust kann man keinem Dirigenten, keinem Orchestermanager hierzulande abstreiten. Trotzdem ist das Beispiel aus dem fernen Schottland exquisit: Es operiert, wie gesagt, mit dem Phänomen der emotionalen Bahnung, einer allerersten Begegnung, die in den Verschaltungskreisen des kindlichen und des elterlichen Gehirns den Rang einer Primärerfahrung annimmt.

Auf Gälisch heißt "Astar" übrigens "Reise", was einen raffinierten Doppelsinn ergibt. Es handelt sich um nichts anderes als die Reise ins Leben, die hier von Musik begleitet wird. Der RSNO-Dirigent Peter Oundjian berichtete neulich, ihm sei als Kind mal ein Kassettenrekorder geschenkt worden, mit dem er sogleich Peter Prokofieffs "Peter und der Wolf" aufgenommen habe. Diese Aufnahme besitze er noch heute. Wenn es "Astar" ähnlich geht, die CD also nicht in irgendwelchen unzugänglichen Regalen im Kinderzimmer verschwindet, sondern als irgendwie hochvertraute Botschaft früherer Tage ins Herz und in die Seele geschlossen wird – dann hätte sie ihr Ziel erreicht.

(RP)
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