Osaka Japans Hunger auf Beethovens Neunte

Osaka · Bei seiner Japan-Tournee musizierte das Kölner WDR-Sinfonieorchester mit 10.000 Laiensängern in Osaka. Für die Menschen in Fernost ist Beethoven mit seiner "Ode an die Freude" eine Kultfigur. Die Choristen sangen auswendig.

Welch ein Anblick! 10.000 Sänger in schwarz-weißer Chortracht füllen das gewaltige Stadion-Rund der Osaka-jo Hall. Geräuschlos haben die Mitglieder von 47 Laienchören ihre Plätze in der Multifunktionshalle eingenommen, in der sonst Judo-Meisterschaften und Popkonzerte stattfinden. Der Chor ist deutlich in der Überzahl, verschwindend klein wirkt das Orchester in der Mitte, nur etwa 5000 Plätze bleiben übrig fürs Publikum, das gespannt auf jenes Kultereignis von nationaler Bedeutung wartet, das nun bereits zum 32. Mal stattfinden wird: die Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie und ihrer "Ode an die Freude" mit einem Chor aus zehntausend Stimmen.

Am Morgen vor dem Konzert wimmelt es auf den Straßen von Frauen in langen schwarzen Röcken und Männern im schwarzen Konzerthabit. Die Invasion der Schwarzröcke ist aus ganz Japan zusammengeströmt, die Teilnahme an diesem Konzert ist heiß begehrt, mehr als 15 000 Choristen haben sich in diesem Jahr beworben, die Probendisziplin ist eisern; wer einmal fehlt, darf nicht mit.

Und dann ist es soweit: Auf einen Schlag erhebt sich im Beethovenschen Orchestergewitter der Mega-Chor, und als die Männerstimmen das erste Mal das Wort "Freude" ins Rund schleudern, meldet sich der Gänsehaut-Reflex. Es ist aber nicht die pure Masse, die wohlig schaudern lässt. Sondern Masse multipliziert mit unglaublicher Präzision!

Natürlich klingt es wuchtig, aber keineswegs diffus. Auch die rhythmisch heiklen Scharnierstellen und die dynamischen Terrassen-Effekte der "Ode" gelingen verblüffend gut. Denn die auswendig (!) singenden Choristen hängen wie magnetisiert am Zauberstab von Yutaka Sado, dessen Dirigat zwar auch auf Video-Screens übertragen wird, aber dort mit Zeitverzögerung ankommt. Deshalb richten sich die 10 000 Augenpaare direkt auf den hoch gewachsenen Maestro und folgen dem durch Mikros verstärkten Hyogo Performing Arts Centre Orchestra.

An dessen ersten Pulten sitzt in diesem Jahr eine 13-köpfige Abordnung des WDR-Sinfonieorchesters. Mit dabei ist Soloflötist Michael Faust, der vor der Reise skeptisch war: "Ich dachte, lieber Gott, was machen wir denn da? Aber es ist eben überhaupt nicht so. Ich muss wirklich gestehen, das ist etwas ganz Seriöses, die Leute haben das richtig gut drauf, die singen das schön, musikalisch."

Michael Faust und seine Kollegen sind die Vorhut des WDR Sinfonieorchesters, das direkt nach Tokio geflogen ist und nicht weniger als zehn Aufführungen der Neunten - dann mit normal besetztem Profichor - musizieren wird, acht davon allein in Tokio. Denn der Hunger nach Beethoven ist in Japan unstillbar. Die Neunte ist seit langer Zeit Kult im Land der aufgehenden Sonne. Es gibt mehrere Erklärungen dafür. Eine davon behauptet, dass deutsche Gefangene nach dem Ersten Weltkrieg aus Dankbarkeit dafür, dass sie im japanischen Lager gut behandelt wurden, erstmals die Neunte in Japan gespielt haben.

Inzwischen ist die Neunte in Japan ein Pendant zu Bachs "Weihnachtsoratorium" hierzulande, denn allein im Dezember finden mehr als 100 Aufführungen statt. Das hat vor allem besinnliche Gründe, wie Yutaka Sado weiß: "Heute ist es so, dass wir mit der Neunten am Ende des Jahre zurückschauen: Was habe ich erreicht, was ist mir gelungen? Dann hoffe ich, dass das nächste Jahr auch ein gutes Jahr wird."

Der Anlass für die ausgedehnte Tournee des WDR-Sinfonieorchesters allerdings war ein ernster: Yutaka Sado ist in Japan eine Identifikationsfigur für den Wiederaufbau der Hyogo-Region nach dem Erdbeben von 1995. Deshalb wurde er nach dem Unglück von Fukushima vor drei Jahren zu einem spontan anberaumten Solidaritätskonzert in die Düsseldorfer Tonhalle geladen. Die aktuelle Japan-Tournee ist nun eine Rückeinladung an die rheinischen Musiker, aus Dankbarkeit für die Geste der Hilfe.

(RP)
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