Gastbeitrag Eckart Von Hirschhausen "Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein"

Der TV-Kabarettist, Buchautor und Arzt suchte eine Einrichtung, in der auch das Altern gelingen kann - und entdeckte das Ferdinand-Heye-Haus in Düsseldorf-Gerresheim. Am Montagabend wird seine erste Reportage in der ARD ausgestrahlt.

Was heißt es, die Kirche im Dorf zu lassen? In Düsseldorf-Gerresheim zog ich für drei Tage in eine Einrichtung der Diakonie, die dort steht, wo früher eine Kirche war. Die Kirche wurde nicht mehr gebraucht, aber statt das Grundstück meistbietend zu verkaufen, wurde ein neuer Ort der Gemeinschaft errichtet: eine Kita, ein Restaurant, ein Altenpflegeheim.

Für mich ist diese Mischung der Lebenswelten beispielhaft, denn ich habe mich für mein neues Fernsehformat "Hirschhausens Check-up" gefragt, wie das Leben gelingen kann: am Anfang, in der Mitte und am Ende. Also ging ich auf die Kinderintensivstation und die Geburtshilfe meiner ehemaligen Arbeitsstätte, der Charité. Ich ging in die Psychiatrie, um zu verstehen, womit Menschen in der Mitte des Lebens zu kämpfen haben - und den Beginn machten die Alten im Ferdinand-Heye-Haus.

Wie fühlt es sich an, unter Menschen zu sein, die sich nicht mehr an vieles erinnern können? In meiner Arztausbildung vor 25 Jahren habe ich noch gelernt, Alter und den Tod als bösen Feind zu betrachten. Was für ein Quatsch. Denn dass heute mehr Menschen mit Alzheimer in Deutschland leben, ist salopp gesagt ein gutes Zeichen. Es bedeutet: Man ist nicht an etwas anderem vorher schon gestorben. Dieses Jahr werde ich 50. Und nur mit sehr viel Optimismus kann ich das als Halbzeit bezeichnen. Wovor habe ich Angst, wovor haben wir alle Angst, wenn wir an Alzheimer denken? Wer Höhenangst hat, geht am besten Schritt für Schritt auf Türme. Wer Spinnen fürchtet, tastet sich an Gummispinnen heran. Und wer Angst vor dem Alter hat, übernachtet einfach mal dort, wo die Matratzen Gummiüberzüge haben.

Einer meiner Mitbewohner ist Herr Huth, weit über 80. Er ist gerne spät unterwegs und dreht auf den Gängen seine Runden. Er grüßt freundlich. Und er entschuldigt sich, wenn er in ein Zimmer geht, das nicht das seine ist. Ich frage, was er sucht. "Ich will zu meiner Frau" und deutet in meine Richtung. Dann lacht er, schlägt die Hand vor den Kopf: "Ach nee, die ist ja gar nicht hier." Ich frage ihn, wo sein Zimmer ist. Er weiß es. Vielleicht war ihm einfach nur langweilig.

Herr Huth hat früher viel getanzt. "Walzer, Foxtrott ", erzählt er und seine Augen fangen über dem roten Unterrand an zu leuchten. Kann er mir noch ein paar Schritte beibringen? Er nimmt Haltung an, trippelt, dann lacht er und sagt: "Das geht nicht barfuß." Und wir beide wahren unser Gesicht.

Einen Tag später werde ich von jemandem in seinem Alter im Tischtennis geschlagen. Heinz Nink war 1961 mit Borussia Düsseldorf Deutscher Meister. Da war ich noch nicht geboren. Heute kommt er mit der Aktion "Bunt geht's rund" in Heime, Behinderteneinrichtungen oder zu Flüchtlingen, um die Begeisterung für das Ping-Pong-Spielen weiterzugeben. Es gibt viele kreative Wege, das Spiel so zu gestalten, dass jeder mitmachen kann, auch ohne Rollator-Rundlauf. Größere Bälle oder Schaumstoff oder Luftballons. Das macht echt Spaß. Und Herr Huth, den ich schlurfend auf dem Gang erlebt hatte, überrascht mich mit schnellen Luftballon-Schmetterbällen, volley, direkt in meine Richtung. Wir lachen uns an. Und ich merke, wie schnell ich andere Menschen von außen beurteile und keine Ahnung habe, haben kann, was in ihnen vorgeht. Wie fit hätte Herr Huth älter werden können, wenn er wie Heinz mehrmals die Woche Tischtennis gespielt hätte?

Die größte Studie darüber, wie wir alt werden, läuft vor unseren Augen. Schau dir fitte alte Menschen an, und frag erst sie und dann dich, worauf es sich lohnt, im Leben acht zu geben. Die legendäre Einstein Aging Study begleitete Menschen über 20 Jahre und zeigte: Was die Menschen taten, um sich die Zeit zu vertreiben, beeinflusst deutlich die Zeit, in der das Hirn abbaute. Meine Oma machte immer Kreuzworträtsel, und daher wusste ich schon früh im Leben: tropischer Vogel mit drei Buchstaben - Ara! Wer mehrmals die Woche Kreuzworträtsel löste, reduzierte sein Risiko für dementielle Erkrankungen um 41 Prozent. Bewegung und Sport wie Schwimmen alleine brachten nur 29 Prozent. Tischtennis war nicht dabei. Sensationelle 76 Prozent Risikoreduktion brachte nur eins: Tanzen!

Ein Grund, warum die Behandlung der Demenz so wenig sichtbare Erfolge bringt: Sie beginnt erst, wenn es für viele Nervenzellen schon zu spät ist. Das ist wie Flugblätter verteilen in einem Fußballstadion - zwei Stunden nach dem Spiel. Bei Alzheimer kommen wir zwei Jahrzehnte zu spät, mindestens. Hirnabbau kommt nicht über Nacht. Und auch nicht von ungefähr. Es gibt keine Zauberformel, keine "App", die annähernd so viel für den Erhalt unserer grauen Zellen tut wie ein buntes, bewegtes Leben.

Was daraus für die Forschung folgen muss: mehr Studien im echten Leben, und so früh starten wie es geht. Was bewirkt es, Kindern im Vorschulalter schon Singen, Tanzen und Trommeln beizubringen? Kinder, die viel tanzen, sind im räumlichen Denken besser und in vielen sozialen Fähigkeiten. Was ich gerne wüsste: Wenn ich zwischen 40 und 60 regelmäßig tanze, wie stark schützt das mein Gehirn?

Was mir in den drei Tagen im Heim half, einen neuen Blick zu bekommen, war ein Alterssimulator. Wie fühlt sich ein Arztbesuch an, wenn ich schlechter höre und Informationen verarbeite? "Fahren Sie nach Wien?" Diese Frage macht so überhaupt keinen Sinn. Aber das macht das eingeschränkte Hirn aus "Haben Sie einen Termin?" Kein Wunder, dass viele Ältere gestresst sind, wenn die Arzthelferin für sie unverständlich ist. "Für die Alzheimer-Patienten sind wir die Verrückten", erklärt mir die Sozialpädagogin Julia Richarz.

Was mich beeindruckt hat: wieviel Musik auch in der letzten Lebensphase bewirken kann. Das Projekt "Music and Memory" nutzt den persönlichen Soundtrack des Lebens bei dementiell Erkrankten, um lang verschollene Erinnerungen wieder zum Klingen zu bringen. Das Rezept: Spiel die Hits individuell auf einen MP3 Player und verabreiche die Musik als Medikament zwei Mal am Tag für zehn Minuten über Kopfhörer. Ich konnte es mit einer Musiktherapeutin zusammen praktisch ausprobieren. Mal tat sich wenig, mal hatten alle Tränen in den Augen. Ich drehte mich im Walzertakt mit einer 93-Jährigen zu "Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein". Ich erlebte, wie eine in sich zusammengesunkene Frau die Augen aufschlug, als mit "Veronika, der Lenz ist da" ein bisschen Frühling bei ihr einzog. Und bei einem bettlägerigen schwer dementen 69-jährigen Mann fing unter der Bettdecke der Fuß an zu zucken, als er "I can't get no satisfaction" über die Kopfhörer bekam. Bei der Gelegenheit fiel mir auf, dass ich dringend meine Eltern fragen muss, was sie in ihrer Jugend gehört haben.

Das Ferdinand-Heye-Haus vom Diakoniezentrum Gerresheim ist die erste Einrichtung in Deutschland, die mit "Music and Memory" Swing, Schlager und Schwung ins Leben der Hochbetagten bringt. Ja, es gibt ein massives gesellschaftliches Problem, weil wir heute und erst recht in den nächsten Jahren viel zu wenige Pflegekräfte haben.

Ich habe in meinem Pflege-Crash-Kursus viel gelernt. Ich habe Alte getroffen, die mir die Angst genommen haben, und herzliche Menschen, die sich kümmern wie in Gerresheim. Sie haben mitgelacht, als mich eine Anwohnerin erkannt hat: "Sie sind doch der aus dem Fernsehen, nicht wahr? Dalli-Dalli!" Ich habe getanzt, Tiere gestreichelt, gesungen und geschwiegen.

Jeder, der tagtäglich für Menschen da ist, die nicht mehr "nützlich" sind, hat meine Hochachtung. Jeder, der Menschen nicht für wertlos hält, nur weil diese nicht wieder gesund und stark werden. Helden des Alltags machen Pipi weg und Tränen und mehr, Tag und Nacht, am Wochenende, an Weihnachten. Herr Danecke rät mir, so viel wie möglich von der Welt zu sehen. Er war sein Leben lang gerne unterwegs und ist noch mit 80 mit seiner Frau auf Kuba gewesen, mit Rucksack. Jetzt ist er 86, in Kurzzeitpflege, weil es zu Hause nicht mehr klappte. Wo war es am schönsten? Samoa? Philippinen? Norwegen? "Das kann ich so gar nicht sagen. Aber wissen Sie - wenn ich in meinem Bett liege, mach' ich die Augen zu, nehme mir ein Ziel vor und verreise."

(RP)
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