Legendärer Raketenkonstrukteur Zwischen Hitler und Hollywood

Düsseldorf · Im Jubiläumsjahr der Mondlandung geht die Erinnerung auch zurück an den Mann, der die Rakete dafür entwickelte: Wernher von Braun. Das Fundament des Apollo-Programms hatte der deutsche Forscher mit Waffen für die Nazis gelegt, bei deren Bau Tausende von KZ-Häftlingen starben.

Wernher von Braun (1912-1977) mit einem Raketenmodell für die US-Raumfahrt.

Wernher von Braun (1912-1977) mit einem Raketenmodell für die US-Raumfahrt.

Foto: Bert Reisfeld/picture alliance

Das komplizierte Verhältnis der Deutschen zu Wernher von Braun lässt sich gut aus Straßenkarten ablesen. In Neuhof bei Fulda etwa fragte 2009 die Lokalzeitung, ob die letzte „WvB“-Schule Deutschlands nicht umbenannt gehöre. So kam es am Ende, sogar mit großer Mehrheit – aber erst nach Debatten, die sich über fünf Jahre hinzogen. Seitdem heißt die Gesamtschule nach Johannes Kepler. Von und zur Schulhaltestelle allerdings fahren die Busse dem Navigationssystem zufolge über eine Straße, die nach wie vor den Namen des einstigen Patrons der Schule trägt: Wernher von Braun. Lediglich die Betreiber der kleinen „Open Street Map“ haben die real nicht mehr existierende Wernher-von-Braun-Straße auf Hinweis des Autors gelöscht. Für die Millionen Nutzer von Google-Maps und Apple existiert sie weiter.

Wernher von Braun ist zäh. Viele einst nach ihm benannte Straßen wurden umgetauft, aber rund 50 zwischen Ampfing, Bonn und Osterholz-Schermbeck tragen seinen Namen noch immer. Deren Nebenstraßen verweisen meist auf Otto Hahn und Albert Einstein, teils skurrilerweise auch auf den Pazifisten Albert Schweitzer.

Auffällig: Die Popularität des Raketenforschers ist höchst ungleichmäßig verteilt. Im Osten und Norden der Republik wird von Braun mit keiner einzigen Straße geehrt. In der DDR galt der überzeugte Antikommunist als Unperson – dort wie offenbar auch an der Nordsee ist er nicht vor allem als smarter, braungebrannter Chefkonstrukteur der Mondrakete bekannt. Sondern als eiskalter Opportunist, der unter den Nazis Karriere machte. Seine Leidenschaft für Raketen lebte er im Zweiten Weltkrieg nicht nur in der hochgeheimen Waffenversuchsanstalt Peenemünde auf Usedom aus. Im KZ Mittelbau-Dora zwischen Göttingen und Erfurt rekrutierte er teils persönlich Zwangsarbeiter, von denen rund 20.000 beim Bau seiner „V2“-Raketen an Zwangsarbeit und Misshandlung starben.

Die historische Person Wernher von Braun ist schwer zu fassen – überlagert von jahrzehntealten Stilisierungen als Held von Weltrang sowie als unpolitischer, von den Gräueltaten der Nazis unabhängiger „guter Deutscher“.

 Von Braun im Juli 1969 vor „seiner“ Saturn-V-Rakete, die Neil Armstrong auf den Mond brachte.

Von Braun im Juli 1969 vor „seiner“ Saturn-V-Rakete, die Neil Armstrong auf den Mond brachte.

Foto: picture alliance / Everett Colle/Foto: dpa

Das war er ebenso wenig wie ein überzeugter Nationalsozialist. Von Braun selbst erinnerte sich allerdings daran, wie gut es ihm gelegen kam, dass er und seine Raketenbastler-Freunde in Berlin 1932 von der Reichswehr rekrutiert wurden: „Wir brauchten Geld, und das Militär schien bereit zu sein, uns zu unterstützen.“ Die Nazis waren damals noch nicht an der Macht, aber auch die schlimmsten potenziell denkbaren Folgen ließen von Braun kalt: „Wir hatten keine moralischen Bedenken wegen einer möglichen späteren Nutzung unseres Geistesprodukts. Wir waren nur daran interessiert, den Weltraum zu erkunden. Für uns war die Frage, wie wir die goldene Kuh am besten melken konnten.“

Tatsächlich war der angeblich so hilflose Spielball der Weltmächte, als der sich von Braun später gern gerierte, ein Selbstdarsteller, der seine persönliche, im Kern unschuldige, wenn nicht gar romantische Passion – den Bau immer größerer Raketen – dem jeweils Meistbietenden zu verkaufen wusste. Egal, ob der nun Adolf Hitler hieß oder John F. Kennedy.

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Foto: ap

Der kanadische Historiker Michael J. Neufeld nennt ihn deshalb treffend einen „Visionär des Weltraums“ – der jedoch billigend in Kauf nahm, dafür zunächst jahrzehntelang ein „Ingenieur des Krieges“ zu sein.

Von Braun war ein preußischer Landadliger, Spross einer Dynastie von Gutsbesitzern, Beamten, Offizieren. Sein nationalkonservativer Vater Magnus befand noch in den 1960er Jahren: „Das mit der Demokratie ist nur eine Mode.“ Von Braun senior war ein Jurist und Landrat, der sich durch Fleiß und Geschick hochdiente zum Pressechef des Reichskanzlers und schließlich zum Reichslandwirtschaftsminister in der Weimarer Republik. Dass er den rechtsextremen Kapp-Putsch in Berlin gegen die demokratische Regierung 1920 unterstützte, wurde ihm nur als Kavaliersdelikt angerechnet.

Wernher von Braun wuchs, 1912 geboren, im Berlin der Zwanzigerjahre auf und besuchte relativ liberale Schulen. Seine wenig standesgemäßen naturwissenschaftlich-technischen Interessen verfolgte er oft in seiner Freizeit: Als siebenjähriger Steppke soll er versucht haben, Bücher zu verkaufen, um sich vom Erlös Bretter für sein Baumhaus leisten zu können.

Seine Mutter Emmy berichtete später, dass Wernher schon als Kind mit Chuzpe und Charme zu spielen wusste: „Es ist mir nie gelungen, mit ihm böse zu sein. Immer, wenn ich es versuchte, setzte er sein engelhaftestes Lächeln auf und redete von etwas anderem.“ Sein Vater kapitulierte sogar angesichts der Nutzlosigkeit jedes Erziehungsversuchs: „Jeder Versuch, ihn zu ermahnen, lief an ihm herunter: nicht nur wie Wasser, sondern wie ein Tropfen Quecksilber, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.“

Dass dieser Junge aus Teflon 1925 zum 13. Geburtstag ein Teleskop bekommt, verändert sein Leben, und den Lauf der Weltgeschichte dazu. Zunächst führt es aber dazu, dass der längst mondsüchtige von Braun 1930 ein Jahr früher als geplant sein Abitur ablegt – mit Spitzennoten in Mathematik und Physik. In ganzen elf Fächern, darunter Geschichte und Politik, bekommt er indes nur ein „befriedigend“, die zweitschlechteste der vier möglichen Noten.

Der Biograf Neufeld nennt von Braun fokussiert, ehrgeizig, eigenwillig und apolitisch – in der Schule wie zu Hause allerdings habe ihn massive Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie umgeben. Der sich abzeichnende Zusammenbruch der Weimarer Republik ist von Braun wohl herzlich egal. Umso überzeugter versichert er den vielen Skeptikern, der erste Mensch, der den Mond betreten würde, sei bereits auf der Welt.

Mit dieser kühnen Aussage liegt er beinahe richtig: Nur wenige Wochen später, am 5. August des Jahres 1930, werden Viola Louise und Stephen Koenig Armstrong stolze Eltern eines Jungen namens Neil.

Von Braun stellt sich nach dem Maschinenbau-Studium in Berlin und Zürich 1932 in den Dienst des Militärs – „seine Erziehung und Ausbildung ließen nicht zu, dass er sich weigerte“, schreibt Neufeld. Wenig später gelangt Adolf Hitler an die Macht. Bereits 1933 tritt von Braun in die SS ein, bleibt aber wohl lange passiv. 1943 wird er in den Rang des SS-Sturmbannführers erhoben, vielleicht als eine Art Ehrentitel – ähnlich wie der „Professor“, den ihm Hitler nach einem Privatvortrag verleiht.

Seinen Doktortitel hatte er regulär erworben, 1934 im Alter von nur 22 Jahren. In den Folgejahren macht er rasant Karriere. 1937 bauen die Militärs von Heer und Luftwaffe ein hochmodernes Raketentest-Areal in Peenemünde auf Usedom mit 350 Mann Personal, aus denen schnell mehr als 1000 werden. Von Braun, als Technischer Leiter der Anstalt deren Topmanager, wird Mitglied Nr. 5.738.692 der NSDAP. Sein Biograf betont: „Nichts deutet aber darauf hin, dass er mehr tat, als seine monatlichen Beiträge einzuzahlen.“

Die schwarze SS-Uniform mit dem Totenkopf-Abzeichen trug von Braun nur in den Fällen, in denen er es für karrierefördernd hielt. Als fanatischer Nazi trat er nicht in Erscheinung. Neufeld kritisiert jedoch „Selbstrechtfertigungs- und Leugnungsprozesse“; noch 1971 schrieb von Braun, dass Juden und Oppositionelle in Nazi-Deutschland in „Gefängnisse“ gebracht worden seien; „aber ins Gefängnis zu kommen und umgebracht zu werden sind verschiedene Dinge“, so Neufeld.

Tatsächlich hat von Braun über den Holocaust nicht nur theoretisch mehr gewusst. In die NS-Verbrechen verstrickt er sich spätestens nach einem britischen Luftangriff auf Peenemünde im August 1943 auch persönlich. Denn nun wird die Raketenproduktion in das unter­irdische „Mittelwerk“ bei Nordhausen verlagert – und die Häftlinge, die dort die Stollenanlagen ausbauen und die Raketen montieren müssen, wählt von Braun teils persönlich aus, etwa 1944 im KZ Buchenwald. Im selben Jahr wird er mit dem NS-Orden „Ritterkreuz“ ausgezeichnet.

Im April 1945, als der Krieg endgültig verloren ist, setzt sich von Braun mit seinen Mitarbeitern zielstrebig in die Alpen ab, wo sie zu den Amerikanern überlaufen. Jens-Christian Wagner, langjähriger Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, berichtet: „Die Fotos und Filme, die US-Soldaten bei der ‚Gefangennahme’ der Gruppe machten, zeigen einen vor Selbstbewusstsein strotzenden Wernher von Braun.“

Dessen Entnazifizierung ist reine Formsache, die Amerikaner gieren nach dem Know-how der Deutschen. Mehr als 1500 Experten stellen sie ein, von Braun ist der Wichtigste. Der entwickelt anstatt für Hitler fortan Waffen für die US-Armee, darunter auch Atomraketen. 1955 erhält er die US-Staatsbürgerschaft, 1959 das Bundesverdienstkreuz. Ein Berg und ein Mondkrater werden nach ihm benannt, dazu diverse Straßen und Schulen.

1960 erscheint mit „Ich greife nach den Sternen“ ein kitschiger, grob verfälschender Spielfilm über sein Leben. Erst in diesem Jahr wechselt er zur Nasa – nach knapp drei Jahrzehnten militärischer Forschung. Den Weg zur Mondlandung bereitet er als Entwicklungschef der gewaltigen Saturn-V-Rakete. Dabei glänzt er als Manager und Marketinggenie: Diverse Artikel sowie gleich drei populäre Erklär- und Werbe-Filme für die Raumfahrt, die er mit einem gewissen Walt Disney produziert, verschaffen dem milliardenschweren Mondprogramm Akzeptanz in der Bevölkerung.

Rhetorisch geschickt spielte von Braun seine Rolle im NS-Regime systematisch herunter – bis hin zu Andeutungen, er hätte aktiv Widerstand geleistet. Im März 1944 war er tatsächlich von der Gestapo festgenommen und eine Woche lang inhaftiert worden. Als Indiz für eine angebliche Gegnerschaft zum NS-Regime sei dieser Vorfall jedoch ungeeignet, betont Von-Braun-Experte Wagner. Grund für den Vorgang sei eine Intrige der SS gewesen, die von Braun aus dem Weg räumen wollte, um ihren Einfluss auf das Rake­ten­programm auszubauen – erfolglos.

Wagner urteilt: „Wernher von Braun war nicht nur Werkzeug des Regimes, sondern sein Akteur.“ Der Buchenwald-Überlebende Adam Cabala erinnert sich: „Von Braun hat bei seinen diversen Besuchen im KZ nicht ein einziges Mal gegen die alltäglichen Grausamkeiten protestiert. Dabei lief er so nah an den Leichenbergen der zu Tode Gefolterten vorbei, dass er sie beinahe berührte.“

Wernher von Braun starb 1977 als Ehemann, dreifacher Vater und spätberufener Christ an Krebs, ohne sich je von seiner Vergangenheit distanziert zu haben. Vielmehr war er noch 1963 polternd zum Gegenangriff übergegangen: „Ich bin vielfach dafür kritisiert worden, dass ich einem als bösartig angesehe­nen politischen System geholfen habe, eine Rakete wie die V2 zu entwickeln. Ich kann dazu nur sagen, dass ich nichts anderes getan habe als Millionen anderer Deutscher. Ein Ingenieur im Kriege ist Soldat, und an dieser Auffassung hat sich bei mir nichts geändert.“

Für diese forsche Selbstgerechtigkeit hatte der Liedermacher Tom Lehrer nur Spott übrig: „Once the rockets are up, who cares where they come down? ‚That’s not my department,’ says Wernher von Braun“, sang er 1965. Sinngemäß  übersetzt: „Wenn die Raketen erstmal oben sind, schert es doch niemanden, wo sie wieder runterkommen. ‚Dafür bin ich nicht zuständig’, sagt Wernher von Braun.“

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