Sturmgewehr Kalaschnikow AK-47 Die Massenvernichtungswaffe

Wie kaum eine andere Waffe hat die AK-47 die Welt verändert. Michail Kalaschnikows Sturmgewehr war begehrt – beim Vietcong, bei Kindersoldaten, bei den Attentätern von München 1972 und Paris 2015. Der vor 100 Jahren geborene Konstrukteur wurde berühmt – und empfand späte Reue.

  Hochdekoriert: Michail Kalaschnikow, der die AK-47 konstruierte (Archivbild).

Hochdekoriert: Michail Kalaschnikow, der die AK-47 konstruierte (Archivbild).

Foto: dpa/Stefan Thomas

Jahrzehntelang hatte er den Ruhm genossen. Die Aufmerksamkeit. Den Umstand, dass man in jeder Sprache der Welt neben „Coca-Cola“ auch einen weiteren Markennamen kennt: seinen Nachnamen. Doch mit 93 plagte Michail Kalaschnikow das Gewissen. An das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche schrieb der Waffenkonstrukteur 2012: „Mein Herz schmerzt unerträglich, denn in mir brennt eine unlösbare Frage: Trage ich nicht Mitschuld am Tod vieler Menschen?“

Das Kirchenoberhaupt Kirill erteilte ihm Absolution; Kalaschnikow sei ein Patriot, getrieben von Sorge um die Sicherheit und Verteidigung seines Vaterlandes gegen die Nazis. Daran, wie seine Erfindung eingesetzt werde, trage er keine Schuld. Schützenhilfe kam von der russischen Politik. Dutzende Male wurde der Waffenentwickler ausgezeichnet, als „Held der Russischen Föderation“, zweimal als „Held der Sozialistischen Arbeit“, gleich dreimal bekam er den Lenin-Orden. Dabei hatte Kalaschnikow in seiner Jugend als Staatsfeind gegolten.

Geboren wird er am 10. November 1919 als 17. Kind eines Kleinbauern im Dörfchen Kurja, nahe der Grenze zu Kasachstan. In einem Viehwaggon deportieren Stalins Schergen die angeblich zu wohlhabende Familie 1932 in ein sibirisches Arbeitslager, wo Michails Vater an Erschöpfung stirbt. Nach fünf Jahren kann Kalaschnikow von dort fliehen; nach dreiwöchigem Fußmarsch rettet er sich in eine Eisenbahnfabrik. Dort stellt man den technisch begabten jungen Mann nur zu gern als Lehrling ein.

1938 wird er zur Armee eingezogen, 1942 nach diversen Panzerschlachten schwer verletzt und traumatisiert entlassen. Der Legende zufolge befragt er im Lazarett andere Verwundete nach der Waffe ihrer Träume - und entwirft an seinem alten Arbeitsplatz in sechsmonatiger Arbeit den Prototyp der robusten automatischen Waffe, die die Rote Armee so schmerzlich vermisst. Seine Einfachheit macht das Blech-Gewehr – dreieinhalb Kilo leicht, nur acht bewegliche Teile – nahezu unkaputtbar.

Flugzeugträger und Panzer, Tarnkappenbomber oder U-Boote sind hyperkomplexe Systeme, unbenutzbar ohne ständige Wartung, Software-Updates, taktisches und technisches Wissen sowie ausgiebige Schulungen. Das tödlichste Waffensystem der heutigen Zeit indes, sagt der Sicherheitsexperte Michael Klare, seien weder Atombomben noch Kampfjets – sondern „ein Halbstarker mit einer AK-47“.

Denn der Umgang mit einer Kalaschnikow ist buchstäblich kinderleicht. Zielen im eigentlichen Sinne ist überflüssig, das ausführlichste denkbare Training dauert eine Stunde. Wer das Hebelchen auf Automatik-Modus stellt, verschießt Feuerstöße von 600 Kugeln pro Minute, die in bis zu 350 Metern Entfernung viel Unheil anrichten können. Und das bei minimalem Rückstoß.

Die äußeren Bedingungen sind dabei irrelevant. Die Kalaschnikow funktioniert in Schneestürmen und Wüstenhitze, im Regenwald sowie im Häuserkampf. Weder Staub noch Schlamm, weder Eis noch Sand machen ihr etwas aus. Man kann sie aus Helikoptern abwerfen, in Reisfeldern vergraben und mit schwerem Gerät überfahren.

Und es mangelt nicht an Nachschub: Die Experten der „Small Arms Survey“ zählen rund 200 Varianten, Abkömmlinge und Kopien des berüchtigten Originals – und kommen auf eine Stückzahl von 70 Millionen. Das ist konservativ geschätzt, vermutlich sind weltweit rund 100 Millionen Kleinwaffen im Kalaschnikow-Stil im Umlauf, die meisten seit Jahrzehnten in Gebrauch.

Manches Exemplar dürfte dutzende Besitzer überlebt haben. Es gibt sie auf jedem Schwarzmarkt der Welt, im Extremfall schon ab zehn US-Dollar – und selbst brandneue Kopien sind spottbillig: Als die US-Armee 2003 die irakische Armee ausrüstete, zahlte sie dem bulgarischen Staatskonzern Arsenal ganze 100 Dollar pro Stück.

Für den Einsatz im Zweiten Weltkrieg kommt das in Teamarbeit zur Serienreife gebrachte Sturmgewehr zu spät, doch in den 1950er-Jahren wird es zur Standardwaffe aller Ostblock-Staaten, von Albanien bis China. Und an der deutsch-deutschen Grenze erschießen DDR-Grenzer Flüchtlinge mit „MPi K“-Waffen aus Suhl und Wiesa im
Erzgebirge – in Lizenz gefertigte Kalaschnikows, in einem Dutzend Varianten.

Verheerend: Die kommunistischen Machthaber verteilen Millionen Kalaschnikows an „Nationale Befreiungsbewegungen“ in der Dritten Welt. Insbesondere der Chefexporteur der DDR, Alexander Schalck-Golodkowski, saniert die Finanzen des maroden Staats, indem er die Waffe weltweit verkauft; teils sogar an jeweils beide Konfliktparteien. Bald laufen Nachbauten auch und gerade in den ärmsten Ländern der Welt vom Fließband: in Äthiopien und Bangladesch, Bulgarien, Pakistan und Nordkorea.

Die Waffe ist größer als jede Ideologie: In Russland verkaufen sich AKs nur noch schleppend, aber eine Tochterfirma in den USA ist gut im Geschäft. In den Palästinensergebieten sind Kalaschnikows allgegenwärtig – und unter dem Namen Galil verwendete sie auch Israels Armee. Den Ausgang des Vietnamkriegs beeinflusst die Kalaschnikow entscheidend. Zwar klagen die Vietnamesen, die AK-47 sei zum Jagen völlig ungeeignet, weil von den Tieren nichts übrig bleibe. Im Nahkampf aber ist sie den moderneren amerikanischen Waffen überlegen.

So wird die Kalaschnikow zur Waffe der Underdogs stilisiert, zum Symbol des gerechten Kriegs gegen übermächtige Gegner. Che Guevara, Ho Chi Minh und Yassir Arafat preisen die AK. Der Mythos wächst.

Doch der Übergang zwischen Freiheitskämpfern und Terroristen ist fließend. Mit Kalaschnikows morden unter anderem die Attentäter von München 1972 sowie jene Islamisten, die 2015 die Pariser Konzerthalle Bataclan überfallen. Parallel dazu wird das Gewehr auch zur Standardwaffe von Drogenkartellen und Piraten, Amokläufern, Mafiosi und Milizen aller Art.

In seinem Buch „AK-47“ schreibt Michael Hodges, Schulkinder in allen Sowjetstaaten hätten im Unterricht gelernt, die Waffe in einer Minute auseinanderzunehmen. Im postkolonialen Machtvakuum gingen Warlords in vielen Teilen Afrikas weiter – und statteten Schulkinder etwa in Liberia und Sierra Leone systematisch mit den todbringenden Instrumenten aus. Einer von ihnen, Emmanuel Jal aus dem Sudan, erklärte Hodges: „Durch diese Waffe fühlte ich mich wie ein Mann. Mit einer AK-47 bekommst du Essen, Respekt – alles, was du willst. Selbst wenn du nur neun Jahre alt bist.“ Zudem habe die Waffe einen eigenartigen Effekt: „Wenn du einmal damit geschossen hast, willst du wieder an die Front. Weil du denkst, du bist unverwundbar.“

Dass ihre eigene Erfindung ihnen entglitten war, erkannten die Sowjets bei ihrem Versuch der Invasion Afghanistans vor 40 Jahren: Sehr bald zerstörten sie entlang jeder Hauptverkehrsstraße alle Bäume und Büsche mit Bulldozern und Panzern, und zwar in 300 Meter breiten Streifen zu beiden Seiten. Es ging nicht anders. Denn so weit schossen die Kalaschnikows, mit denen die CIA die Islamisten versorgt hatte.

Die AK-47 hat nicht nur die Kriegsführung verändert, hin zu sogenannten „asymmetrischen Konflikten“ zwischen Armeen aus Berufssoldaten und Quasi-Zivilisten, vielleicht in Lumpen und barfuß, aber schwerbewaffnet mit Kalaschnikows. Ganze Weltregionen sind durch sie praktisch unregierbar geworden: Im Irak und Afghanistan, Syrien und der Kaschmir-Region sowie in weiten Teilen Süd- und Lateinamerikas, West- und Ostafrikas herrscht die „Kalaschnikow-Kultur“ – das Gesetz des Dschungels.

„Wie auf ein Kunstwerk, etwa eine Stradivari-Geige“, so der Bildhauer Salawat Schtscherbakow, blickt in Moskau seit Ende 2017 ein 7,50 Meter hoher Michail Kalaschnikow aus Bronze auf sein Werk. Die technische Zeichnung am Fuß der Statue zeigte allerdings zunächst das äußerlich ähnliche „Sturmgewehr 44“ der Nazis. Peinlich, aber kein Einzelfall: Auch das berüchtigte Logo der Rote Armee Fraktion enthält anstelle einer Kalaschnikow vielmehr eine MP-5, die spätere Standardwaffe der Bundespolizei. Absichtlich allerdings prangt die AK-47 auf der Staatsflagge und der Währung Mosambiks, ziert die Wappen Simbabwes und Osttimors sowie die Logos der kolumbianischen Guerillabewegung und der palästinensischen Hisbollah.

Von seiner nie patentierten Erfindung finanziell zu profitieren, versuchte Kalaschnikow erst spät. Nachdem er in den Neunzigerjahren noch Anfragen amerikanischer Zigaretten- und Bierhersteller abgelehnt hatte, kam er 2003 nach Solingen – als frischgebackener Mitgesellschafter der dort ansässigen Firma Marken Marketing International (MMI). Dort träumte man von lukrativen Geschäften mit Snowboards, Geländewagen und Mineralwasser unter dem weltbekannten Namen.

Kalaschnikow hoffte darauf, seine schmale Rente aufzubessern – auch für seine damals vier Kinder, fünf Enkel und neun Urenkel. „Die Blüten hängen schon an den Bäumen, jetzt will ich auch die reifen Früchte ernten“, sagte er Reportern. Viel wurde daraus nicht, denn immer deutlicher stand die Waffe in Verbindung mit Terrorismus, Kriminalität und Diktaturen. Osama bin Laden inszenierte kein Foto oder Video ohne sie. Saddam Hussein soll seine vergoldete AK-47 geliebt haben, und als er gefasst wurde, hatte er neben Bargeld auch zwei einsatzbereite Kalaschnikows bei sich. Selbst die Minarette seiner Lieblingsmoschee ließ er in Form von Kalaschnikow-Läufen bauen.

Kurz bevor deren Erfinder 2004 für ein Werbe-Event des nach ihm benannten Wodkas nach London reiste, stürmten Terroristen eine Schule im russischen Beslan und nahmen mehr als 1100 Geiseln. Zum verheerenden Blutbad mit 130 Toten kam es, weil gleich drei schwer bewaffnete Gruppen aufeinandertrafen: neben den Terroristen und den Sicherheitskräften schalteten sich auch Bürger im Ausnahmezustand ein – allesamt ausgerüstet mit Kalaschnikow-Sturmgewehren.

Ob die ersehnte Absolution des Kirchenführers Michail Kalaschnikow beruhigte, ist nicht überliefert. Er starb am 23. Dezember 2013 an einem Magengeschwür. Bei einem Besuch in Deutschland im Jahr zuvor hatte er zu Protokoll gegeben: „Ich bin untröstlich, dass meine Waffe in der ganzen Welt so viel Unheil anrichtet. Hätte ich doch bloß etwas anderes erfunden – zum Beispiel einen Rasenmäher.“

Auf einer Rangliste der „50 Produkte, die die Welt veränderten“, landete die AK-47 auf Platz vier, hinter dem Mac-Computer, der Anti-Baby-Pille und dem Videorekorder. Allerdings stammt diese Liste vom amerikanischen „Playboy“. In den Teilen der Welt, wo man die Kalaschnikow nicht nur aus Rap-Texten, „Rambo“-Filmen und
Videospielen kennt, stünde sie ganz oben. Millionen Menschen wurden mit ihr getötet oder verstümmelt, ganze Gesellschaften zerstört. Nach Genoziden, Bürgerkriegen und etlichen Massakern haben vielerorts nicht mehr die Alten oder die Weisen das Sagen, sondern die, die diese Waffe tragen. Jeder noch so kleine Konflikt, der früher mit Worten oder Fäusten ausgetragen worden wäre, ist heute potenziell lebensgefährlich.

Der Autor Michael Hodges schreibt, die Kalaschnikow sei nicht auszurotten, „wie ein Virus, der seinen Träger immer wieder aufs Neue infiziert“. Der Waffenhistoriker Edward C. Ezell hatte bereits 1986 prophezeit: „Wir können davon ausgehen, dass die Kalaschnikow noch 2025 benutzt werden wird.“ Und darüber hinaus; diese Massenvernichtungswaffe hat kein Verfallsdatum.

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