Erziehung ohne Zwang

Kinderläden und antiautoritärer Erziehungsstil stehen bis heute für die Pädagogik der '68er-Bewegung. Kinder sollten möglichst frei aufwachsen, ihre Gefühle ausleben - und so davor bewahrt werden, faschistischen Ideologien zu verfallen.

Sechs Kinder lümmeln im Schaufenster eines Ladens herum, in dem früher Schuhe verkauft wurden. Ihre Haare sind wirr, im Raum hinter ihnen liegen Stöcke, ein Autoreifen baumelt von der Decke, und wenn Passanten strenge Blicke durch das Fenster werfen, ziehen die Kinder Grimassen.

1967 gründen Frauen in Frankfurt und Berlin die ersten Kinderläden. In den Städten machen damals immer mehr Supermärkte auf, so müssen viele Einzelhändler aufgeben und deren Ladenlokale stehen leer. Diese kleinen Geschäfte werden zu pädagogischen Experimentierfeldern. Eltern mieten sie an, um sie in herrschaftsfreie Räume zu verwandeln, in denen ihre Kinder ohne Drill und Strafen, ohne Leistungsdruck, Ängste und Neurosen aufwachsen sollen. Anders als sie selbst.

Der Bruch ist radikal. Schließlich ging es in den meisten traditionellen Einrichtungen damals noch darum, Kinder von klein auf zu Ordnung, Reinlichkeit und Gehorsam zu erziehen. Und so wurden sie zu festgelegten Zeiten schlafen gelegt, die "bösen Händchen" auf der Bettdecke, und wenn die Kindergärtnerin die Perlenkästen auf den Tisch stellte, wurden eben Perlen aufgezogen. Solange das Fräulein wollte.

Natürlich widersprachen solche Methoden dem Freiheitsgeist der '68er-Bewegung. Und als die engagierten Studenten Eltern wurden, suchten sie nach alternativen Möglichkeiten, ihre Kinder ohne Zwänge zu erziehen. Das hatte auch politische Gründe: Theoretiker wie Theodor W. Adorno und Erich Fromm, deren Schriften damals zur Massenware wurden, hatten den Zusammenhang zwischen autoritären Strukturen, Anpassungsdruck und individueller psychischer Verfassung herausgearbeitet. Sie sahen die Wurzeln des Faschismus in der autoritären Persönlichkeit, die wiederrum sollte auf autoritäre Erziehung zurückgehen.

Also stellten sich viele '68er vor allem in akademischen Kreisen die Frage, wie die Beziehung von Kindern und Eltern und das Verhältnis von Kindern und Erziehern alternativ gestaltet werden müsse, um die nächste Generation gegen faschistische Ideologien zu immunisieren. Ihre Kinder sollten sich ausleben können, sollten kritische, selbstständige Persönlichkeiten mit robuster Ich-Stärke werden, die niemals wieder einem Führer nachlaufen würden.

Reformschulen wie die Demokratische Schule Summerhill in England wurden zum Vorbild für Elterninitiativen und neue Schulversuche in Deutschland. In Summerhill ist der Unterrichtsbesuch freiwillig, und die Schüler entscheiden in eigenen Gremien über ihre Geschicke. Die Schule ist also keineswegs regellos, doch sprang man in Deutschland vor allem auf die Abschaffung der Autoritäten an - und begann mit den eigenen Experimenten.

Auch die Idee der sexuellen Befreiun, als Indiz für eine repressionsfreie Gesellschaft wurde auf die Kinder angewandt. Triebunterdrückung galt als besonders destruktive Form des Zwangs, freie Sexualität als Ausweis einer freien Persönlichkeit. Und da man inzwischen erkannt hatte, dass auch Kinder sexuelle Wesen sind, sollten auch sie ohne Scheu etwa vor Nacktheit aufwachsen.

Manche aus der Theorie geborene Idee wirkte in der Praxis so verstörend, dass antiautoritäre Erziehung bis heute eher als Schimpfwort gilt. Auch wird der Erziehungsstil der 1968er regelmäßig für Missstände der Gegenwart verantwortlich gemacht. Autoren wie Bernhard Bueb ("Lob der Disziplin"), Susanne Gaschke ("Die Erziehungskatastrophe") oder jüngst David Eberhard ("Kinder an der Macht: Die monströsen Auswüchse liberaler Erziehung") landeten Bestseller mit Büchern, in denen mit liberalen Erziehungsidealen abgerechnet wird.

Der Unwille oder die Unfähigkeit, Kindern Grenzen zu setzen und auf Sekundärtugenden wie Ordnung und Pünktlichkeit zu pochen, ist für sie Zeichen der Indifferenz, Bequemlichkeit oder ideologischen Verblendung von Eltern - und grob fahrlässig, weil Kinder ohne Grenzen in ihren Augen Kinder ohne Halt sind.

Als 1998 bekannt wurde, dass an der Odenwaldschule, einer bereits 1910 gegründeten Reformschule, in der viele Ideale der freiheitlichen Erziehung umgesetzt wurden, Schüler jahrelang sexuell missbraucht wurden, schien das Kritikern wie ein später Beweis für die Untauglichkeit alternativer Konzepte. Dabei zeigte die Aufarbeitung bald, dass auch an der Odenwaldschule vor allem die Abschottung eines sozialen Mikrokosmos den Missbrauch möglich machte.

Trotzdem begegnet man im Zeitalter von Turboabitur und Helikoptereltern Erziehungsmodellen, die auf Selbstregulierung des Kindes setzen, oft skeptisch bis ablehnend. Zwar gibt es weiter Elterninitiativen, Waldkindergärten und Reformschulen, doch genauso beständig Debatten darüber, dass Eigenverantwortung Kinder überfordere. Oder wie es ein Buchtitel süffisant auf den Punkt bringt: "Müssen wir schon wieder machen, was wir wollen?" Dabei hatten schon die Gründerinnen der ersten Kinderläden keineswegs im Sinn, ihren Nachwuchs einfach machen zu lassen: "Ein selbstreguliertes Kind ist kein sich selbst überlassenes Kind", schrieb etwa die Gründerin der Frankfurter Kinderschule, Monika Seifert. "Das Kind kann seine Bedürfnisse nur dann regulieren und seine eigene Interessenvertretung lernen, wenn es sich in der Geborgenheit eines stabilen Bezugsrahmens (Elternhaus, Kinderkollektiv) befindet."

Das betont schon damals, dass Kinder vor allem verlässliche Bindungen brauchen. Und dass Eltern dafür die Verantwortung tragen, egal welcher pädagogischen Schule sie anhängen. Natürlich setzt das dem Selbstverwirklichungstrieb, der '68 so sehr zum Zeitgeist gehörte, Grenzen. Was passiert, wenn Eltern diese Grenzen nicht sehen und sich Egotrips hingeben, hat '68 auch gezeigt. Zumindest zeugen davon Lebensberichte, in denen inzwischen erwachsene Hippie-Kinder mit ihren Eltern abrechnen. Bücher wie "Bhagwan, Che und ich" sind Protokolle von Kindheiten ohne rechte Fürsorge. Doch sie zeigen auch, dass Kinder Freiräume durchaus selbst füllen können - und dass es jungen Menschen heute womöglich an ein wenig mehr Unbeobachtet- und Unverplantsein mangelt.

Den Philosophen Richard David Precht haben die wütenden Elternabrechnungen seiner Generationsgenossen herausgefordert, seine eigene Kindheit in einem linken Elternhaus mit milderer Ironie zu beschreiben. "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" wurde auch erfolgreich verfilmt. Solche Lebenserinnerungen erzählen davon, was geschieht, wenn Weltanschauungen in die Kinderzimmer vordringen und Erziehung zum gesellschaftlichen Experiment wird. Im Mittelpunkt stehen dann die Überzeugungen von Erwachsenen, nicht das Wohl des Kindes. Diese Gefahr besteht indes zu jeder Zeit, im Kinderladen von einst wie in der Privat-Kita mit Grübelzimmer und Schachunterricht für die High-Potentials der Zukunft.

(dok)
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