Erst das Fressen, dann die Moral

Dieser Glanz ist ein Elend. Da sitzen diese bräsigen Gestalten mit Zigarre, feinem Gewand und einem Glas voller Sekt in einem Café und haben nichts Besseres zu tun als zu feixen. Ihr Blick führt hinaus auf die Straße, zu dem, was sie nichts angeht.

Dort laufen sie in einem langen Zug, die Armen, Hungrigen und die Traurigen, und demonstrieren. Sie demonstrieren nicht für Anerkennung oder Freiheit, nicht für den Rechtsstaat oder den Erhalt der Republik, sie demonstrieren für ihr Leben. "Wir wollen Brot" steht auf ihrem Schild, und Otto Dix könnte mit seiner Grafik von 1923 alles gesagt haben, was man über diese Zeit wissen müsste.

Die Zwanziger sind zurück. Wohin man auch schaut: Die Menschen seifen sich im Schaumbad der Saumseligkeit ein und schwärmen von den Goldenen Zwanzigern, den "Roaring Twenties". Diese Eleganz, diese Kleidung, der Jazz, das Amüsement! Und wie sie feiern konnten in den Zwanzigern, mit Klasse! So sehr, dass der Preis für ein Kilogramm Kokain von 16 Mark vor dem Krieg auf 17.000 Mark im Jahr 1921 gestiegen war. Ach, wären doch nur die Zwanziger zurück!

Tom Tykwer hat eine Serie über diese Zeit gedreht, "Babylon Berlin" heißt sie, und die Leute laben sich an der mondänen Hauptstadt Europas. Theresia Enzensberger, Tochter von Hans Magnus, hat einen Roman geschrieben, "Blaupause", und ihn ebenfalls auf jene Zwanziger datiert. Eine junge Frau kommt darin an das Weimarer Bauhaus und studiert bei Professoren wie Gropius und Kandinsky. 90 Jahre später kommt die junge Enzensberger mit diesem Stoff erschreckend modern daher. Auch deswegen ist es gut, dass die Frankfurter Kunsthalle Schirn in "Glanz und Elend in der Weimarer Republik" ein soziologisches Panorama dieser Zeit zeigt. Beabsichtigt oder nicht: Die Schau warnt eindringlich vor der angesagten Glorifizierung der Zwanziger.

Die Weimarer Republik kann man nur von ihrem Ende aus betrachten. Es ist Vorteil und Verpflichtung der Gegenwart zugleich, der Vergangenheit Lehren zu entziehen. Bei jedem Schritt, den diese zarte, erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden wagte, sieht man heutzutage den Abgrund, der da lauert. Auf die Jahre von 1918 bis 1933 folgte das größte Verbrechen, das die Menschheitsgeschichte kennt. Und so kommt der Besucher der Schirn auch nicht umher, sich in jedem Winkel der Schau zu fragen: An welcher Stelle hätte man all das noch aufhalten können? Hätte man?

Mit dem Hang zum Realismus liegt die "Neue Sachlichkeit" der Ausstellung zugrunde. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigten Otto Dix, Elfriede Lohse-Wächtler, Franz Radziwill, Georg Scholz oder Jeanne Mammen, was ist. "Fast ohne Kunst" wollte Dix auskommen. Mit ihren klaren Strukturen stellten sie Menschen oder Maschinen in den Mittelpunkt, nie die Natur, und arbeiteten beinahe journalistisch. Die zeitgenössischen Künstler bildeten das Leben in der Weimarer Republik nicht nur ab, sie kommentierten mit ihrer Kunst. "Brutalität! Klarheit, die weh tut", forderte George Grosz.

Den Versuch, zu mahnen und zu warnen, muss man als gescheitert betrachten. Aber es ist von einiger Erstaunlichkeit, mit welcher Ahnung der drohende Nationalsozialismus in den Werken der Schirn auftaucht. Bereits 1923, im Jahr des gescheiterten Putschversuchs durch den NSDAP-Vorsitzenden Adolf Hitler am 9. November im Münchner Bürgerbräukeller, schuf Otto Dix ein Werk, in dem man Hitler zu erkennen glaubt. Bei "Zuhälter und Prostituierte" gibt es nur diese zwei Möglichkeiten: Entweder sieht der Zuhälter aus wie Adolf Hitler oder aber Adolf Hitler wie ein Zuhälter. Die Ähnlichkeit jedenfalls kann kein Zufall sein.

Mit dem trüben Blick auf das, was da kommt, sucht man den Glanz und findet die Prostitution. Den Ersten Weltkrieg im Nacken, die Schuldfrage von sich weisend, musste die junge Republik Reparationen leisten. Also druckte sie immer mehr Geld, um den Forderungen Frankreichs irgendwie nachkommen zu können. Es folgte die Inflation und auf die Inflation Ende 1923 die Hyperinflation. Hunger und Armut grassierten; die Zahl der Prostituierten verdoppelte sich zwischen 1913 und 1925. Vielen Frauen blieb nichts als ihr eigener Körper, um den Ausfall des vom Kriege versehrten oder verstorbenen Mannes als Ernährer zu ersetzen. Für Otto Dix symbolisierte der Aufstieg der Prostitution den moralischen Abstieg auf allen Ebenen; er erkannte in ihr die allgemeine Käuflichkeit.

Dieser Widerspruch lässt sich nicht einfach auflösen. Die Gesellschaft machte schließlich enorme Fortschritte. Frauen durften wählen, studieren, arbeiten und Sport treiben. Die "Frauenfrage", also die Frage nach Abtreibung, nach Eherechten, nach der gesellschaftlichen Stellung, dominierte die Debatten. Die "neue Frau", die knabenhafte Garçonne, schnitt sich die Haare kurz und trug die Hemden der Männer, war selbstbewusst und emanzipiert - und dann musste sie sich doch verdingen. Glanz und Elend, nirgendwo ist das stärker miteinander verknüpft als in dieser Zeit. Später, zum Ende der Weimarer Zeit, da ist für viele bloß der Tod noch ein Ausweg. 19.000 Selbstmorde zählt das Jahr 1932, drei Jahre nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise. 2015 waren es halb so viele Selbstmorde.

Die Kuratorin der Ausstellung, Ingrid Pfeiffer, lässt den Besucher etwas ratlos zurück. Dieser sucht und sucht, stößt auf Fragen und auf manche Antwort, aber die große Idee bleibt die Schirn schuldig. Fast ohne sichtbaren Zusammenhang sind die Räume konzipiert, man taumelt von Hungernden, Streikenden, Schwangeren und Feiernden zu Sportlern. Dass der Titel von Glanz und Elend spricht, wirkt, als gäbe es zwei Seiten einer Medaille. Aber in der Weimarer Republik kann man die Feier nicht ohne den Hunger sehen, die Maschinen nicht ohne die Arbeitslosen, die Republik nicht ohne die Diktatur. Jeder Glanz ist ein Stück Elend.

Wenn man die Parallelen zum Jetzt nun sieht, es gibt sie ja, den technischen Fortschritt und die Skepsis des Menschen davor, den Arbeiter, der durch Maschinen ersetzt wird, dann muss man auch die Unterschiede sehen. Von Weimarer Verhältnissen ist Deutschland im Jahr 2017 weit entfernt. Es gibt Agitatoren, Propaganda und fürchterlichen Nationalismus, aber es gibt eben auch die Vielen, die Aufrechten. Nur haben das die Menschen in den Goldenen Zwanzigern sicher auch geglaubt. Dieses Weimar ist uns so nah und doch so fern.

Bertolt Brecht sagt: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Denn wovon lebt der Mensch?" Das war schon immer so.

Info Ausstellung: "Glanz und Elend in der Weimarer Republik". Frankfurter Kunsthalle Schirn, bis 25. Februar, im Internet unter www.schirn.de

(her)
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