Interview mit dem Virologen Prof. Thomas Mertens „Eine Impfung kann die Pandemie beenden“

Ulm · Auf einen Impfstoff gegen die Covid-19-Erkrankung richten sich zahllose Hoffnungen. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko) ist ebenfalls zuversichtlich, warnt aber davor, auf schnelle Effekte zu setzen. Und er fordert ein nationales Impfregister.

 Bei dem neuen Impfstoff der Firma Biontech muss zwei Mal gespritzt werden.

Bei dem neuen Impfstoff der Firma Biontech muss zwei Mal gespritzt werden.

Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Thomas Mertens ist Virologe, war viele Jahre Lehrstuhlinhaber am Universitätsklinikum Ulm und steht dem obersten deutschen Impfgremium vor: der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut.

Als wir im Frühjahr über das neue Coronavirus telefonierten, sagten Sie zu mir: „Im Herbst machen wir beide ein Update, um zu schauen, was passiert ist.“ Also: Was ist denn jetzt?

Mertens Es ist klar, dass wir derzeit eine heftige zweite Welle in ganz Europa erleben, das war damals noch die Frage, ob eine solche kommen würde. Die Welle hat überall unterschiedliche Ausprägungen, aber Deutschland ist jedenfalls auch stark betroffen. Jetzt wollen wir mit einem modifizierten Lockdown erreichen, dass das Versorgungssystem nicht in die Brüche geht.

Was dachten Sie im Frühjahr: Kommt die zweite Welle oder nicht?

Mertens Ich hatte einen freundschaftlichen Disput mit einem alten virologischen Kollegen, der wie ich mal Präsident der virologischen Gesellschaft war. Und wir haben um eine Flasche Champagner gewettet, ob die zweite Welle kommt. Ich habe die Flasche gewonnen.

Hätte Deutschland die aktuelle Situation vermeiden können?

Mertens Theoretisch auf jeden Fall. Man hätte vier Wochen lang alle Menschen vereinzeln können, dann hätte man das verhindern oder mildern können. Das Coronavirus hat ja, auch wenn Frettchen und Nerze infizierbar sind, kein extrahumanes Reservoir, es muss zwingend von Mensch zu Mensch übertragen werden. Und wenn man die Infektion nicht weitergibt, steckt das Virus in einer Sackgasse.

Und warum wurde das nicht gemacht?

Mertens Weil die Politik – und das ist ja auch ihr Problem – aus nachvollziehbaren Gründen Mittelwege geht, die für die Menschen noch sozial erträglich sind und trotzdem einen Effekt haben. In der Summe ist das auch richtig so. Es gibt natürlich immer Schlaumeier, die noch bessere Ideen gehabt hätten. Aber diese Leute haben meist nur Meinungen, aber keine verlässlichen Daten, auf die sie sich stützen.

Ist der Mittelweg schwer zu finden?

Mertens Ja, sehr schwer. Daran hängen ja zahllose Dinge. Und ich möchte jedenfalls nicht dauernd meinen Mund aufmachen, nur weil ich phasenweise eine andere Idee zu Einzelmaßnahmen habe. Im Sommer oder Frühherbst hätte man den jetzigen Weg gar nicht gehen können, da hätten viele Leute nicht mitgemacht.

Jetzt klammern sich die Menschen an das Prinzip Hoffnung – und an eine Impfung.

Mertens Zu recht, denn eine Impfung ist der Schlüssel zur Lösung des Problems. Aber ich warne vor der falschen Hoffnung, dass eine Impfung ganz kurzfristig einen erheblichen Effekt auf die Situation haben könnte. Wenn Sie anfangen zu impfen, dann erreichen Sie etwa bei Risikogruppen den sogenannten Individualschutz eines Menschen. Das zweite Impfziel, nämlich epidemiologische Auswirkungen, kann man auch erreichen, aber das dauert. Auch bei Corona braucht das Zeit, einige Zeit.

Wie rechnen Sie?

Mertens Wenn Sie in Deutschland 60 Impfzentren haben, von denen jedes am Tag vielleicht 1500 Menschen impfen kann, können Sie sich ausrechnen, wann Sie etwa bei 20 Millionen Geimpften sind.

Ich komme da mathematisch auf ein knappes Jahr.

Mertens Und das nur unter der Annahme, dass es auch genügend Impfstoff gibt. Und dann müssen einige Impfstoffe ja bei minus 70 bis 80 Grad transportiert und gelagert werden, das ist ein ziemlicher Aufwand. Der Impfstoff muss ja auch immer vorrätig sein.

Was ist mit den Daten etwa über Nebenwirkungen?

Mertens Das ist der Punkt, der mir am meisten am Herzen liegt. Wir müssen ja die sogenannte Pharmakovigilanz gewährleisten, also die Arzneimittelsicherheit. Jetzt, in der Erprobungsphase, werden ja nicht sehr viele Menschen geimpft. Seltene Nebenwirkungen finden Sie aber erst, wenn Sie in größeren Mengen impfen. Und damit Sie solche Signale frühzeitig erkennen, müssen Sie das zentral erfassen. Da nutzt uns die föderale Struktur gar nichts. Es wäre ganz schlecht, wenn in einer solch elementaren Lage jedes Bundesland sein eigenes Süppchen kocht. Wir brauchen endlich ein nationales Impfregister wie in Finnland. Das würde uns auch helfen, den Effekt des Impfens besser bemessen zu können.

Wie hoch schätzen Sie die Compliance ein, also die Bereitschaft der Menschen, sich impfen zu lassen?

Mertens Momentan dümpelt sie zwischen 50 und 60 Prozent herum, das wird sich aber ändern. Wenn die Situation dramatischer werden sollte, wird die Impfbereitschaft zunehmen, davon gehe ich aus.

Mal ein paar praktische Fragen. Wohin piekst man? In den Oberarm?

Mertens In den Oberarm, und zwar in den Deltamuskel. Man kann auch von hinten in den Trizeps stechen. Oder man kann, wie man das oft bei Babys sieht, in den Oberschenkel seitlich impfen, eine Handbreit über dem Knie. Der Ort ist nicht so entscheidend. Den Oberarm nimmt man, weil man da so gut drankommt.

Der Allerwerteste scheidet aus?

Mertens Ja, denn wenn die Nadel nur ins Fettgewebe geht, ist die Impfwirkung geringer. Man muss sicher den Muskel erreichen.

Ist der Einstich schmerzhaft?

Mertens Wenn Sie nicht gerade einen Hautnerv treffen, eigentlich nicht. Die lokalen Reaktionen an der Einstichstelle sind aber in den Tagen danach wohl etwas deutlicher als bei anderen Impfungen, das wissen wir von den Phase-II-Studien.

Muss die Impfung wiederholt werden?

Mertens Ja, bei den Impfstoffen, die jetzt vorliegen, werden wir zwei Mal impfen müssen.

Warum?

Mertens Wegen des sogenannten Booster-Effekts. Der erste Schritt ist eine Grundimmunisierung, der zweite verschafft einen relevanten Antikörper-Anstieg.

Und wenn man dann geimpft ist – ist man dann gefeit gegen Erkrankung und auch gegen Ansteckung? Oder erkrankt man nur nicht, wenn man sich irgendwo ansteckt, ist aber positiv und kann auch andere infizieren?

Mertens Das ist eine wichtige Frage. Wir können sie noch nicht beantworten. In den Phase-III-Studien schaut man nur, ob jemand erkrankt. Ob sich jemand infiziert und dann möglicherweise selbst ansteckend für andere ist, danach schaut man nicht. Dann müsste man bei allen Studienteilnehmern jede Woche einen Abstrich für einen PCR-Test machen, das ist aber nicht vorgesehen.

Also noch einmal: Ein Geimpfter könnte sich trotzdem mit dem Coronavirus anstecken und es auch an andere weitergeben, obwohl er selbst nicht erkrankt?

Mertens Ja, das könnte sein. Aber wir wissen von anderen Infektionskrankheiten, dass Geimpfte, die vor der eigenen Erkrankung geschützt sind, deutlich weniger Virus ausscheiden, sofern sie sich irgendwo infiziert haben. Aber die sogenannte sterilisierende Immunität wird ja wirklich nur von den wenigsten Impfstoffen erfüllt. Auch wer gegen Röteln geimpft ist, kann sich anstecken, und bei ihm kann sich das Virus auf den Schleimhäuten vermehren. Und er kann es dann auch ausscheiden. Die Menge ist allerdings viel geringer.

Ist das eine vertrackte Situation?

Mertens Nun, die Leute, die geimpft wurden, aber sich trotzdem infizieren und andere anstecken, würden ja nicht auffallen, weil sie nicht erkranken.

Das spricht aber nicht gegen die Impfung, oder?

Mertens Nein, überhaupt nicht. Ich finde, dass Impfen das Wichtigste in der Medizin ist, was je zur Prophylaxe entwickelt wurde. Ein Infektionsproblem hat man in der Geschichte immer nur erfolgreich lösen können, wenn es eine Impfung gab – wenn wir mal von Sars-CoV-1 absehen, was ein Sonderfall war. Masern, Mumps, Diphtherie, Kinderlähmung, Pocken, Tetanus – durch die Impfung hat man das Problem dieser und vieler anderer Infektionserkrankungen gelöst. Und diese Hoffnung darf man bei Sars-CoV-2 auch haben. Eine Impfung kann die Pandemie beenden.

Der momentan für Deutschland genannte Impfstoff soll zu etwa 90 Prozent Schutz bieten. Glauben Sie daran?

Mertens Ich hoffe es sehr. Damit wir mehr Sicherheit bekommen, brauchen wir dringend die Daten aus der Phase-III-Studie – damit wir wissen, woran wir sind.

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