Düsseldorf Ein Tagebuch aus der Nazi-Zeit

Düsseldorf · Viele Deutsche hätten im NS-Staat vom Holocaust vermutlich wissen können.

Am 30. September 1944 zerstört ein amerikanischer Bombenangriff Bielefeld. In Frankreich ergibt sich die Wehrmachtsbesatzung von Calais den Kanadiern. In Polen ersticken die Deutschen die letzten Reste des Warschauer Aufstands. In Auschwitz kommt ein Zug mit 1500 Menschen aus Theresienstadt an; die meisten werden sofort vergast. Ein Tag wie tausend andere in der Hölle des Krieges.

An diesem 30. September setzt sich Werner Otto Müller-Hill, Oberstabsrichter beim Divisions-Kriegsgericht in Straßburg, über sein Tagebuch. Der 59-Jährige ist krank auf Heimaturlaub; seit einem halben Jahr zeichnet er seine Gedanken auf. "Es wird vielleicht", schreibt er im März, "wenn ich diesen Krieg überlebe, für meinen Sohn nicht uninteressant sein, völlig ehrliche Aufzeichnungen eines Heeresrichters aus der – wie ich überzeugt bin – letzten Phase des Kriegs zu lesen." Müller-Hills Tagebuch 1944/45 ist jetzt erschienen: "Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert" (Siedler, 176 S., 19,99 Euro).

Am 30. September, fast vier Monate nach der alliierten Invasion im Westen, ist Müller-Hill von der Aussichtslosigkeit der Lage überzeugt. "Armes, armes Deutschland!", schreibt er: "Der Wunderglaube blüht, und ich hörte, eine schwedische Wahrsagerin habe vorausgesagt, dass Deutschland 1946 den Krieg gewinne." Für den Autor sind das nur "Symptome der schweren Psychose, die das arme Volk zurzeit durchmacht".

Müller-Hill ist kein Nazi, er glaubt auch nicht an Hitler. Aber er ist Patriot, ja Nationalist. Am 30. September 1944 verzeichnet er erstmals Berichte über Taten, "die unheldisch, unmilitärisch und absolut undeutsch sind": der Mord an den Juden. Er habe von Güterzügen in Polen gehört, schreibt der Richter, "mit etwa 50 Waggons voller Juden, die vergast und verbrannt wurden", und von Sonderkommandos hinter der Ostfront, die Juden erschössen. Müller-Hills Schlussfolgerung: "Dass das Judentum alttestamentarische Rache zu üben entschlossen ist, ist klar. Wenn es nach ihnen ginge, würden ebenso viele Deutsche ermordet, wie wir kalten Blutes Juden in Polen und Russland umgelegt haben."

Das ist zynisch, antisemitisch. Gerade deshalb aber erweist sich das Tagebuch als Schatz: Hier schreibt keiner mit moralischer Geste, um sich zu rechtfertigen, sondern völlig authentisch – und damit historisch glaubwürdig.

Immer wieder wird nun das Thema Judenmord bei Müller-Hill auftauchen, aber es wird nie dominieren. Als Propagandaminister Joseph Goebbels im Februar 1945 wieder Durchhalteparolen verbreitet, kommentiert Müller-Hill: "Welche Stirn hat dieser Mann! Er redete von Gräueln an Frauen und Kindern angesichts der Tatsache, dass wir Hunderttausende jüdischer Frauen und Kinder glatt umgebracht haben!" Deutschland habe ein "furchtbares Schuldkonto" aufgehäuft, stellt Müller-Hill fest, und: "Ich habe noch keinen kennengelernt, der diese furchtbaren Dinge nicht absolut verurteilt hat."

Praktisch im Nebensatz wird damit aber auch klar: Nicht nur der gut verdrahtete Richter Müller-Hill hat vom Judenmord gehört. Berichte aus erster Hand schärfen auch ein Dreivierteljahrhundert nach dem Holocaust noch unsere Erkenntnis in der Frage, wie viel "die Deutschen" davon wussten, wissen wollten oder hätten wissen können. Das unbequeme Ergebnis: Kenntnis des Massenmords lag an ganz verschiedenen Stellen vor, in Großstädten wie in der Provinz, unter Nazis wie unter Regimegegnern, unter Deutschen wie unter Juden – wenn auch selten in Einzelheiten. Wer wollte, hätte wissen können.

Dass die NS-Verbrechen für immer die deutsche Identität verändert haben, das bleibt richtig. Dass mehr Deutsche, als man lange wahrhaben wollte, davon zumindest eine Ahnung hatten, leider auch.

(RP)
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