Ottawa Ein Requiem für einen schmelzenden Gletscher

Ottawa · Die Natur als solche kommt oft und gern in der Musik zum Vorschein. Meistens posiert sie dort als hübsche oder eindrucksvolle Kulisse oder als Hintergrundrauschen – beispielsweise in der "Wassermusik" von Georg Friedrich Händel, der "Pastorale" von Ludwig van Beethoven oder der "Sinfonia antarctica" des britischen Komponisten Ralph Vaughan Williams. Dies sind drei Werke mit sehr unterschiedlichem Gestus, aber gleicher Zielrichtung: Das Publikum hat beim Hören Bilder vor dem inneren Auge. Stets sind es Bilder einer imposanten, ungefährdeten Natur.

Jetzt allerdings gibt es eine Komposition, deren klagenden Charakter sich jeder vorstellen kann, der in diesen Tagen unter grotesken Temperaturen ächzt und sich ausmalt, was sie andernorts bewirken. Kanadische Musiker haben nämlich ein "Requiem für einen schmelzenden Gletscher" uraufgeführt. Derlei kennen wir ja aus den Alpen. Bei Google Maps ist die abseitige Lokalität näher definiert: Es handelt sich um den Farnham-Gletscher in der kanadischen Provinz British Columbia. Dort kamen jetzt 50 Instrumentalisten und 40 Choristen zusammen, um inmitten der Eismassen das "Requiem For A Glacier" in vier Sätzen des Komponisten Paul Walde aus der Taufe zu heben.

In diese unwirtliche Region wurden sie begleitet von einem Tross aus Trägern, Technikern und natürlich Presseleuten, welche die Botschaft um die Welt tragen sollten. Die im Internet verfügbaren Klangproben aus Nord-Kanada künden nicht eben von einer luxuriösen Akustik, aber von dem löblichen Ansinnen der Musiker, mit einer hymnischen Ansprache an die Völker dieser Welt die Folgen der Ozonlöcher zu beweinen. Es ist zu befürchten, dass die ehrenwerte Aktion im Wind verhagelt – nein: einfach austrocknet. Ihr wird es ebenso ergehen wie Kompositionen, die schon zur Rettung unserer deutschen Wälder aufs geduldige Papier gebannt wurden.

Die Ohren der Konsumenten sind für ein derart abseitiges Memento nicht recht justiert. Das liegt auch daran, dass große Komponisten kein gewachsenes Verhältnis zum Naturschutz haben. Als Anton Bruckner seine Kantate "Helgoland" für Männerchor schrieb, ging es nur um die Gefahr einer fremden Invasion auf der stolzen freien Insel, weniger um deren Vernichtung durch die stoische Brandung und die Gier der Menschen nach Rohstoffen.

Eine gewisse Konsequenz hätte es, wenn Komponist Walde auch eine feste Kamera am Gletscher installierte, die den Prozess der Schmelze in Live-Bildern fürs Internet täglich dokumentiert. Das Auge ist bekanntlich ein langfristig zuverlässigerer Protokollant des Schreckens als das Ohr.

(RP)
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