Düsseldorf Doktortitel – eine Frage der Glaubwürdigkeit

Düsseldorf · Wenn der Doktortitel aberkannt wird, geht es nicht nur um Fußnoten, sondern um ein bürgerliches Leistungsprinzip.

Das ist schon eine staunenswerte Nation: Gerade eben noch verfolgte sie millionenfach die Fährnisse im Dschungel-Camp des Lebens; und schon kurz darauf stellen sich dieselben Menschen für einige Wochen die Frage, wie in wissenschaftlichen Arbeiten richtig zitiert wird und welche Quellen anzugeben sind. Es ist, als würde sich das Land der selbst ernannten Dichter und Denker noch einmal vom Krankenlager erheben und einer großen Wissens- und Universitätstradition zu neuem Leben verhelfen. Auch darum geht es in der Auseinandersetzung um die Doktorarbeit von Annette Schavan – "Person und Gewissen" von 1980.

In der Beweisführung des Verfahrens und in seiner Folge ist dieser Fall sehr wohl vergleichbar mit denen von Theodor zu Guttenberg oder Silvana Koch-Mehrin. Die versteckte Nutzung fremder Quelltexte führte in allen Fällen zur Aberkennung des Doktortitels. Und doch unterscheidet sich der Fall Schavan grundlegend von den meisten anderen durch seine Zählebigkeit.

Im Gegensatz beispielsweise zu Guttenbergs Werk, in dem sich auf 70 Prozent aller Seiten Plagiate fanden, war der Fall Schavan nicht schon vordergründig entschieden. Es gibt bis heute Momente des Zweifels, Vorwürfe auch an den Rat der Philosophischen Fakultät der Heine-Uni, zu harte Maßstäbe für Forschungsarbeiten aus alten, quasi vor-elektronischen Zeiten angelegt zu haben. So blieb schließlich eine grundlegende Unsicherheit darüber, ob Schavan plagiiert oder vielleicht nur paraphrasiert hatte; ob eine Täuschungsabsicht ihr Antrieb war oder mit ihrer Arbeit nur handwerkliche, wenngleich umfängliche Mängel zu Tage traten. Etliche Wissenschaftler neigten zu dieser weit milderen Kritik an der wissenschaftlichen Arbeitsmethode.

Die Anteilnahme so vieler Menschen an diesen im Grunde wissenschaftsinternen Vorgängen mag ein Hinweis darauf sein, dass ein Doktortitel und seine Rechtmäßigkeit auch ein Teil des Wertekanons unserer Gesellschaft sind. Seine Relevanz wird besonders deutlich im Kontrast zum früheren Adelstitel. Weil die Unterschiede beider Auszeichnungen den Übergang einer monarchischen zur bürgerlichen Gesellschaft markieren können. Während der Adelstitel nie durch Leistung, sondern nur durch die Geburt erworben wurde, wird man Doktor ausschließlich durch die eigene Leistung; die Abstammung ist oder sollte zumindest bedeutungslos sein. Und genau das beschreibt die Wertegrundlage unserer heutigen Gesellschaft, die gerne auch Leistungsgesellschaft genannt wird. Dem Doktortitel wohnt damit ein Prinzip inne, das vom Bürgertum getragen und forciert wurde. Die einfache, damals in den bürgerlichen Anfängen noch revolutionäre Botschaft lautete demnach: Leistung lohnt sich, Leistung wird belohnt. Dies förderte zugleich unser Rechts- und Gleichheitsempfinden. Die gesamte Entwicklung des 19. Jahrhunderts – zunächst in ökonomischer, danach auch in staatsrechtlicher Sicht – gründet auf diesem Prinzip der freiwilligen Leistung, der ein Baustein des Liberalismus ist und zu einem Antriebsmoment des 19. Jahrhunderts wurde.

Zum Inbegriff wissenschaftlicher Erkenntnis wurde das Zählen und Messen; die Statistik ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts: "Erst jetzt steigerte sich die Idee der Aufklärung, die Welt vollständig beschreiben und taxonomisch ordnen zu können ... Erstmals im 19. Jahrhundert vermaßen Gesellschaften sich selbst und legten darüber Archive an", schreibt Jürgen Osterhammel in "Die Verwandlung der Welt", seiner grundlegenden Arbeit über die Geschichte dieser Epoche. In ihr haben wir gelernt, die Welt im wissenschaftlichen Maßstab zu denken. Im 19. Jahrhundert bildet sich ein neuer Gelehrtenhabitus, ein neuer Wissenschaftsbegriff wird begründet und angewendet: Es kommt nun auf die Unverwechselbarkeit des wissenschaftlichen Arbeitens an – "bestimmt durch den Willen zur Forschung und das heißt auch durch den Imperativ zur steten Selbstüberholung", wie es unlängst Jürgen Fohrmann, Rektor der Bonner Universität, formulierte. Diese bewusste Absetzung von dem, was bekannt ist, und die damit verbundene Forderung nach Originalität nennt man Fortschritt.

Dieses Versprechen ist ja eine Voraussetzung dafür, dass den Universitäten und ihren Wissenschaftlern bis heute ein gerüttelt Maß an Autonomie zugestanden wird. In diesem gesellschaftlich-wissenschaftlichen Kontext nimmt der Doktortitel eine Sonderstellung ein. Denn sein Erwerb kann zwar den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen, er ist aber kein Garant für einen beruflichen und ökonomischen Erfolg. Der Lohn dieser wissenschaftlichen Mühe kann in Einzelfällen auch nur ein ideeller sein. Auch dieses Ethos adelt die Auszeichnung; es macht das Wissen zu einem Wert an sich.

Wir streiten im Fall von Annette Schavan nicht ums 19. Jahrhundert, nicht um Fortschritt und auch nicht um die Zukunft der Wissenschaften. Aber in der mit viel Ernst und reichlich Aufwand geführten sowie sehr aufmerksam beobachteten Debatte ist deutlich geworden, dass wir auch über die Grundwerte unserer Wissens- und Leistungsgesellschaft sprechen. Es geht um Glaubwürdigkeit und Ehre, um Verlässlichkeit und Vertrauen. Auch sie spielen eine Rolle für die Glaubwürdigkeit von Forschung und unsere Zuversicht in die Zukunft. Aus diesem Grund wächst das Erregungs- und Besorgnispotenzial bei fragwürdigen Arbeiten gerade von Politikern; und in gesteigerter Form naturgemäß bei solchen, deren politische Arbeit sich mit der Welt der Forschung berührt. Und bei einer Wissenschaftsministerin sind beide Bereiche deckungsgleich.

Unsere Aufmerksamkeit ist nicht allein dem Promi-Status geschuldet. Der Politiker mit Doktorhut scheint mit der Aneignung von Wissen und dem Ausweis seiner wissenschaftlichen Kompetenz mit politischer Gestaltungskraft belohnt worden zu sein. Im promovierten Volksvertreter bestätigt die Gesellschaft sich selbst. Wird dieser Wert durch Täuschung oder anderes Fehlverhalten ausgehöhlt, so verliert der Überführte seine Reputation; am Ende ist es die Wissenschaft. Der alte Adelstitel war noch ein echter Titel; der Doktortitel ist es nicht. So ist er nach seinem Erwerb kein Bestandteil des bürgerlichen Namens; der Träger hat darum auch kein Recht, mit "Doktor" angesprochen zu werden. Aber er ist zumindest ein sogenannter Namenszusatz. Und wer diesen unbefugt führt, riskiert eine Freiheitsstrafe. Seine Aberkennung wird nur mit dem Entzug des Ministeramtes geahndet.

(RP)
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