Serie Rheinische Pioniere (15): Ursula Lehr Die Menschenforscherin

Sie ist als Gerontologin der ersten Stunde bekannt und als Kämpferin für die Gleichberechtigung. Als Ministerin erhielt sie viel Gegenwind.

Anti-Aging ist ihr ein Gräuel, "Forever young" die schlimmste Werbung, die es gibt. Ursula Lehr weiß, dass Alter nach anderen Gesetzen und Regeln verläuft. Sie ist nicht nur Pionierin im Fach Gerontologie. Besonders glaubwürdig ist die Altersforscherin, weil sie selbst das beste Beispiel dafür abgibt, was sie lehrt: Die 84-Jährige ist fit in jeder Hinsicht, sehr beschäftigt und vielfach engagiert - dabei unermüdlich. Grundsätzen bleibt sie grundsätzlich treu - wie etwa der als Empfehlung zu lesenden Maxime frei nach Cicely Saunders: Es gilt, dem Leben nicht nur Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben zu geben!

Ursula Lehr ist in der öffentlichen Wahrnehmung vielleicht nicht so bekannt wie andere Frauen, die lautstärker für dieselbe Sache stritten wie sie. Wie Frauenrechtlerin Alice Schwarzer etwa im ewigen Kampf für die Gleichberechtigung oder Ursula von der Leyen, die als CDU-Politikerin 20 Jahre nach Lehrs Amtszeit als Familienministerin Tagesstätten für kleine Kinder (Kitas) durchsetzte. Einen Namen machte sich Lehr vor allem als Familienministerin in Kohls Kabinett. Sie war damals 58 Jahre alt, gerade erst der CDU beigetreten und hatte verschiedene Expertisen für die Familienberichte der Bundesregierung verfasst.

1988 ereilte sie der Ruf von Bundeskanzler Helmut Kohl, das Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu übernehmen. Ihr fiel damals die Entscheidung schwer, sich von ihrem neu gegründeten Heidelberger Institut für Gerontologie zu trennen, das im selben Jahr erst mit dem Wintersemester die Arbeit aufnahm. Auch war ihr damals klar, dass die Situation als politische Seiteneinsteigerin nicht leicht werden würde. Die meisten weiblichen Abgeordneten der CDU machten kein Hehl aus ihrer Enttäuschung, dass nicht einer aus ihren Reihen das Amt angetragen worden war. Lehr zählte nicht einmal zur Fraktion. Diese Gruppe der enttäuschten CDU-Politikerinnen, so schreibt Lehr später in ihrer Biografie, wartete nur darauf, dass sie ins Fettnäpfchen treten würde.

Da jedoch der Kanzler sie darum gebeten hatte, die Seniorenpolitik im Lande voranzutreiben, konnte sie unmöglich nein sagen, hatte sie doch schon über Jahrzehnte gefordert, den Seniorenfragen in der Politik mehr Beachtung zu schenken. Nach zwei Jahren, dem Rest der Legislaturperiode, wollte sie auf jeden Fall wieder zurück an ihr Institut, wo sie als eine der wenigen weiblichen Lehrstuhlinhaber jener Zeit an einer deutschen Universität arbeitete.

Ursula Lehr war noch keine sechs Wochen im Amt, als sie Anfang 1989 mit ihrer Forderung, die Kindergarteneintrittsgrenze auf zwei Jahre herunterzusetzen, unvorstellbaren Protest erntete. "Familienministerin macht Familien kaputt", titelten damals überregionale Zeitungen oder "Familienministerin will DDR-Verhältnisse zurück". Sie wurde in die Fraktionssitzung zitiert, wo es heftigste Kritik bis hin zur Infragestellung ihrer Person gab. Am 8. Februar schrieb ihr Kanzler Kohl einen persönlichen Brief von historischem Wert: "Nach Ihrer ,Kindergartenäußerung' erreichten mich viele Briefe aus der Partei", heißt es darin, "Ich halte es für dringend geboten, dass Sie möglichst rasch in einer überlegten und ruhigen Weise dazu Stellung nehmen, damit wir bald eine entsprechende Beruhigung erreichen. Der bayerische Ministerpräsident und die CSU-Landesleitung haben mich ebenfalls angesprochen, so dass zu erwarten ist, dass dieses Thema auch in der Koalition eine große Rolle spielen wird." Der Druck hätte höher nicht sein können. Ursula Lehr änderte ihre Meinung zu dem Thema nicht, aber sie hielt still. Die heutige Entwicklung im Bereich der professionellen Kinderbetreuung betrachtet sie voller Genugtuung.

Als Entwicklungspsychologin hat sie neue Maßstäbe für die Betrachtung des Menschen als soziales Wesen gesetzt. Ein Kind, so Lehr, ist von Geburt an ein soziales Wesen, gewiss nicht nur auf die Mutter gerichtet. Kinder brauchen Kinder zum Spiel und zur Interaktion, weil sie mit Gleichaltrigen anders umgehen als mit Erwachsenen. In Berufung auf Studien von Georg W. Geist belegte Lehr zudem die Bedeutung des Vaters oder einer anderen männlichen Bezugsperson von den ersten Lebenstagen an. Bis heute fordert sie mehr Männer als Lehrer in Grundschulen und idealerweise auch als Erzieher in der frühkindlichen Betreuung.

Es ist auch der Blick der Entwicklungspsychologin, der sie veranlasste, großangelegte Studien zum Erwachsenenalter, insbesondere des Alterungsprozesses anzustoßen. Im Februar 1989 setzte sie die Beauftragung einer Sachverständigenkommission durch, die den ersten Altenbericht, "Die Lebenssituation älterer Menschen in Deutschland", erarbeitete: Alte Menschen sind nicht über einen Kamm zu scheren, das Altersbild in der Gesellschaft ist zu korrigieren und zu differenzieren, hieß es darin. Nach Vorlage des Altenberichts wurde vom Parlament beschlossen, in jeder Legislaturperiode einen Bericht zur Lage der älteren Generation erarbeiten zu lassen. Lehr hatte die Politik für die demografischen Herausforderungen der Zukunft sensibilisiert und fütterte als Wissenschaftlerin die Öffentlichkeit mit neuen Erkenntnissen über den alternden Menschen. Sie war die treibende Kraft zur Gründung des "Deutschen Zentrums für Altersforschung" in Heidelberg und wurde 1995 Gründungsdirektorin dieser Stiftung. Seit 2009 ist sie Vorsitzende der "Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen".

Was verdanken wir heute der 84-jährigen Menschenforscherin, die in ihrer eigenen Familie vieles Emanzipatorische vorgelebt bekam, was sie später aus Überzeugung wissenschaftlich unterfütterte? In einem ihrer wichtigsten Bücher untersuchte die Mutter zweier Söhne, ob Kinder berufstätiger Mütter unglücklicher aufwachsen als andere Kinder. Und ob sie in der Entwicklung benachteiligt sind. Für Lehr stand früh fest: Es kommt nicht auf die Quantität der Zuwendung in der Mutter-Kind-Beziehung an, sondern allein auf die Qualität. Dass Mädchen und Jungen gleich behandelt werden, war für die Älteste von zwölf Geschwistern Gesetz. Ihrer Mutter war eine Ausbildung noch - trotz Empfehlung zur Lehrerausbildung - verwehrt geblieben.

Vor dem Hintergrund ihrer Studien betrachtet man heute den Ruhestand als Zeit der Chancen. Altern ist kein Gespenst, sondern ein lebenslanger Prozess des Lernens und der Veränderung, der mit der Geburt beginnt, sagt Lehr. Die dramatisch alternde Gesellschaft müsse dafür Sorge tragen, die Lebensqualität für Senioren zu verbessern. Manch einer sei mit 50 schon fertig, der andere blühe in diesen Jahren erst richtig auf. Ein Dachdecker könne mit 65 sicher nicht mehr aufs Dach steigen, dafür steckten eventuell andere Fähigkeiten in ihm.

"Das Altern ist die Herausforderung für jeden und für die Gesellschaft", so Lehr. Nur 30 Prozent der älteren Menschen bewegten sich im Internet, dabei seien heutzutage Technikbotschaften existenziell, jedenfalls die beste Methode, geistig fit zu bleiben. Auch müssten Städte und Kommunen dafür Sorge tragen, dass der Stadtraum sowie mannigfaltige der körperlichen Ertüchtigung dienende Einrichtungen seniorengerecht ausgestattet werden. "Fange nie an, aufzuhören und höre nie auf, anzufangen" - Lehr ermuntert zum Schwimmen und zur Teilnahme am öffentlichen Leben, an Kultur und Politik, "Aktivität lautet die Glücksformel", sagt sie - "solange es geht."

Ursula Lehr will sich nicht explizit für eine Frauenquote aussprechen - aber dafür, dass bei gleicher Qualifikation Frauen genommen werden. Vorsichtig ist die Katholikin auch bei ihrer Bewertung des § 218: "Heute halten wir Abtreibung für selbstverständlich, morgen ist es dann die Euthanasie". Vorbeugung und Aufklärung hält sie immer für die besseren Instrumente.

Die zweifach verwitwete Hessin setzt auf den Dialog unter den Generationen, auch in der Familie. Von Kindern und Enkeln kann man lernen, sagt sie, sowie diese auch von den Alten lernen. Ihr gefällt ein afrikanisches Sprichwort, in dem es heißt, dass mit einem alten Menschen eine ganze Bibliothek stirbt. Sie fordert Respekt gegenüber jedem Lebensalter sowie den Respekt untereinander in einer Zeit, in der sich langfristige Bindungen zunehmend auflösen und das althergebrachte Familienmodell einem Patchworksystem gewichen ist.

(RP)
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