Wien Der Gipfel in Wien ordnete Europa neu

Wien · Vor 200 Jahren tagte der Wiener Kongress. Er bot neben Politik ein unterhaltsames Rahmenprogramm rund um die Uhr.

Silvester 1814. Der Tag war in seiner Gleichförmigkeit aufgezogen wie viele andere vor ihm: Es wurde getanzt, gefeiert, geliebt und gehasst - nur auf hohem Niveau. Seit Wochen schon gab es prunkvolle Hofbälle, Empfänge, Soiréen, Bankette, Jagden und Unterhaltungsmöglichkeiten aller Schattierungen. Auch unzählige Damen mit horizontaler Begabung waren in die Stadt eingefallen wie ein Hornissenschwarm.

Österreichs Erzherzog Johann sah entnervt in dem Spektakel "nichts als Visiten und Gegenvisiten. Essen, Feuerwerk, Beleuchtung. Überhaupt habe ich seit acht bis zehn Tagen nichts getan". Kurz vor dem anstehenden Jahreswechsel war am 13. Dezember 1814 in Wien der Fürst und Feldmarschall Charles Joseph duc de Ligne gestorben. Er hatte es noch geschafft, das Treiben in Österreichs Hauptstadt in ein treffendes Bonmot zu gießen: "Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärts." Am Neujahrstag 1815 trafen sich dann im Zeremoniensaal der Hofburg wieder Europas Gekrönte und Mächtige zum Kammerball - in jenen Tagen nichts Neues unter dem Himmel Wiens.

Doch all das gesellschaftliche Getue und Getöse täuschte gewaltig. In Wirklichkeit tagte in Österreichs Hauptstadt seit vielen Wochen der Wiener Kongress, der die politische Neuordnung Europas am Ende der napoleonischen Ära und damit der französischen Vorherrschaft festlegen sollte. Auch die preußische Provinz Westfalen wurde vor 200 Jahren, am 30. April 1815, auf dem Kongress beschlossen.

Preußen besaß schon einige Territorien am Rhein, es trat nun das Erbe rheinischer Territorialherren an und übernahm die ehemals kurkölnischen und bergisch-jülichschen Gebiete. Europas territoriale Neuordnung hatte Preußen aber auch Gebietsverluste am Niederrhein beschert. So gingen die westlich der Maas gelegenen Gebiete an das neu geschaffene Königreich der Niederlande. Preußens König Friedrich Wilhelm III. bilanzierte später, ihm wäre die Eingliederung des Königreichs Sachsen nach Preußen als Ergebnis des Wiener Kongresses lieber gewesen. Wie dem auch sei: Mit dem Rheinland wurde Preußen der Weg auch zur Industriemacht bereitet.

Der Kongress war eine Mega-Veranstaltung. Unter Leitung des österreichischen Außenministers Fürst von Metternich zogen Vertreter aus rund 200 Staaten, Herrschaften und Städten im Palais am Ballhausplatz in mühevoller Kleinarbeit zahlreiche Grenzen in Europa neu. Damit sollte das napoleonische Staatensystem in Europa rückgängig gemacht und nach 22 Jahren Krieg eine dauerhafte Nachkriegsordnung eingerichtet werden. Man wollte ein politisches Gleichgewichtssystem zur Abwendung künftiger militärischer Auseinandersetzungen schaffen.

Nach vielen Vorgesprächen wurde der Kongress am 1. November 1814 eröffnet. Die Verhandlungen fanden in der Regel in kleinen Gremien und Zirkeln statt. Zu einer echten Vollversammlung ist es nie gekommen. Delegierte trafen sich offiziell oder mitunter verdeckt. Mit Salonintrigen, Absprachen zugunsten oder gegen andere Konferenzteilnehmer wurde Politik gemacht. Gegenspieler Metternichs waren vor allem Zar Alexander, der Abgesandte der britische Krone, Lord Castlereagh, und Talleyrand als Vertreter der geschlagenen Grande Nation. Der ehemalige Bischof von Autun hatte schon zu Revolutionszeiten geschickt Fäden gezogen und Napoleon als Außenminister gedient. Der wiederum qualifizierte ihn später als "Scheiße in Seidenstrümpfen" ab.

Seine Mission in Wien war wohl die schwierigste: Er wollte Frankreich vor größeren Gebietsabtretungen bewahren und in den Kreis europäischer Großmächte zurückführen. Preußen wurde durch seinen König, Karl August von Hardenberg und Wilhelm von Humboldt vertreten.

Die Besprechungen stockten bisweilen, es wurde vertagt und taktiert. Auch Damen der ersten wie auch der zweiten Gesellschaft wurden eingesetzt, um zu spionieren, zu amüsieren und sich politische Kontrahenten für ihre Länder geneigter zu machen. Es gab bissige Berichte über Amouren der Kongressteilnehmer und wer wen wann ausgestochen hatte. Der österreichische Hof hatte Schlitten und Kutschen anfertigen lassen, die von den adeligen Gästen und deren Gefolge rund um die Uhr angefordert werden konnten.

Anfang 1815 war dann die Krise da. Man konnte sich über die Zukunft Sachsens nicht einigen. Die Lage spitzte sich zu, als Napoleon aus seinem von den Engländern bewachten Exil auf der Insel Elba floh und eine neue Armee zusammenstellte. Damit hatte niemand gerechnet. Die alliierten Siegermächte der Völkerschlacht von Leipzig (Oktober 1813) schickten erneut ihre Soldaten gegen den Franzosen ins Feld, der den Einigungswillen von Wien aber nicht mehr aufhalten konnte. Am 9. Juni 1815 wurde die Schlussakte über Europas Neuordnung unterzeichnet. Neun Tage später wurde Napoleons Armee bei Waterloo vernichtend geschlagen. Napoleon wurde auf die abgelegene Insel St. Helena im Südatlantik verbannt, wo der ehemalige Kaiser der Franzosen 1821 starb.

Der Wiener Kongress war mehr als nur ein Diplomaten- und Politikertreff und ist nicht vergleichbar mit heutigen EU-Gipfeltreffen. Noch nie hatte sich eine so große Anzahl von gekrönten Staatsoberhäuptern und hohen Adeligen zu Verhandlungen getroffen. Gastgeber war Österreichs Kaiser Franz. Zu seinen Gästen zählten unter anderen der russische Zar Alexander I., König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, der dänische König Friedrich IV. und König Maximilian I. Joseph von Bayern. Sie alle wohnten in der Hofburg, unterhalten und bei Laune gehalten vom schicken Rahmenprogramm mit üppigen Festen, Bällen und Konzerten. Ende November 1814 hatte Ludwig van Beethoven mit seiner 7. Symphonie im Redoutensaal blaublütige Zuhörer entzückt. Auch Schubert feierte Erfolge. Es war die Zeit, in der die Wiener Ballkultur ihre erste Hochblüte erlebte. Täglich wurde bis zur Erschöpfung gefeiert. Die horrende Summe von rund 16 Millionen Gulden hatte sich Österreichs Staatskasse das Kongress-Spektakel kosten lassen.

Rund 100 000 Adelige, hohe Diplomaten und Zuarbeiter für den Konferenzbetrieb sowie viel lebenslustiges Fußvolk waren in die Donau-Metropole gekommen, wobei Wien damals selbst nicht mehr als 250 000 Bürger zählte. Zur Jahreswende 1814/15 war Wien wahrhaft eine internationale Stadt, die zu feiern wusste, die Arbeit aber nicht vergaß. Sonst hätte der Wiener Kongress seine Ziele nicht erreichen können.

(RP)
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