Deutschlandweite Initiative "Mehr Arbeiterkinder an die Unis!"

Düsseldorf · Von 100 Akademikerkindern nehmen 71 ein Hochschulstudium auf. Dagegen studieren von 100 Kindern nicht-akademischer Herkunft lediglich 24. Dies zu ändern ist das Ziel der deutschlandweiten Initiative "Arbeiterkind.de".

Die größten Probleme im Studium
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Foto: centertv

"Das bin ich!", dachte Ulrike Voigt aus Düsseldorf, als sie in einem sozialen Netzwerk auf die Initiative "Arbeiterkind.de" stieß. In Ostdeutschland zu DDR-Zeiten aufgewachsen, bezeichnet sie sich selbst als "Arbeitertochter".

Eine Ausbildung und dann der Beruf als Versicherungskauffrau, das war der Weg, den die Eltern für sie vorgesehen hatten. "Ich habe dann gemerkt: Das ist es nicht. Über die Alternativen war ich mir allerdings lange nicht im Klaren, traute mir Abitur und Universität nicht zu."

Ermutigung zum Studieren

Schließlich folgten aber doch Abendschule und ein erfolgreich abgeschlossenes Pädagogikstudium — und heute hilft Ulrike Voigt ehrenamtlich Schülern aus Arbeiterfamilien bei der Entscheidung für ein Studium.

Sie engagiert sich in der Düsseldorfer Gruppe von "Arbeiterkind.de", einer Initiative, die Schüler aus nicht-akademischen Familien zur Aufnahme eines Hochschulstudiums ermutigen und vom Studieneinstieg bis zum erfolgreichen Abschluss unterstützen möchte.

Die Idee stammt von Katja Urbatsch, selbst die erste Akademikerin in ihrer Familie, heute Doktorandin an der Uni Gießen und Geschäftsführerin von "Arbeiterkind.de". "In meiner Familie muss ich mich bis heute für mein Studium rechtfertigen — denn jetzt promoviere ich auch noch", sagt Urbatsch, die "Arbeiterkind.de" im Jahr 2008 ins Leben rief.

Die hohe finanzielle Belastung sei nur einer von vielen Gründen, die Abiturienten, deren Eltern nicht studiert haben, von einem Studium abhalten. Die eigentliche Benachteiligung liege in einem großen Informationsdefizit, mangelnder Vertrautheit mit dem System Hochschule und dem Mangel an Vorbildern in der Familie.

Mangel an Aufklärung

"Meine Mitschüler wussten durch ihre Eltern viel besser Bescheid, wie Uni funktioniert. Und meine aus Akademikerfamilien stammenden Freundinnen an der Hochschule bekamen zu Hause Tipps zu Hausarbeiten und Referaten", so erinnert sich Urbatsch.

Dass tatsächlich erheblich weniger Arbeiterkinder an den deutschen Hochschulen studieren als Kinder aus Akademikerfamilien, lässt sich mit Zahlen der aktuellen Sozialstudie des Deutschen Studentenwerks belegen: Von 100 Akademikerkindern nehmen 71 ein Hochschulstudium auf. Dagegen studieren von 100 Kindern nichtakademischer Herkunft lediglich 24, obwohl doppelt so viele die Hochschulreife erreichen.

Damit sich das ändert, hat "Arbeiterkind.de" inzwischen deutschlandweit 80 lokale Gruppen gegründet, die unter anderem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt werden. Auch in Österreich hat die Initiative Fuß gefasst — aus anderen europäischen Ländern gibt es Anfragen.

Die 17 Teams in Nordrhein-Westfalen unterstützt das hiesige Wissenschafts- Ministerium. "Es gibt bei einigen Kindern von Nicht-Akademikern Zweifel, Vorurteile und Hemmungen gegenüber den Universitäten", sagt Cara Küffner, NRW-Koordinatorin für "Arbeiterkind.de".

"Wir erhalten per Mail viele Fragen von Schülern, die unsicher sind. Sie sagen: Ich mache Abitur, aber ich weiß nicht, ob ich ein Studium schaffen kann. Wir fragen dann, woher diese Zweifel kommen." Als erster Abiturient in der Familie wüssten viele nicht, wie das Studium funktioniert.

Vorurteile gegenüber Bafög

Zum Thema Bafög gebe es zudem einige Vorurteile: "Es ist nicht durchweg bekannt, dass man nur die Hälfte des Bafögs zurückzahlen muss — und zwar ohne Zinsen", sagt Küffner. Viele hätten außerdem Angst, dumme Fragen zu stellen und scheuten so den Weg zur Studienberatung der Unis.

"Bei uns treffen sie junge Leute, denen es ähnlich ergangen ist. Dort bekommen sie Erfahrungsberichte und Informationen aus dem Hochschulalltag. So gestärkt gehen sie dann in eine Studienberatung."

Ein Vorurteil, wie es in manchen Familien vorherrsche, überrascht Cara Küffner immer wieder: "Es gibt die Ansicht, dass ein Studium nur zum Taxifahren führe. Dabei können wir statistisch belegen: Nur 2,5 Prozent der Akademiker sind arbeitslos. Da sind einige Schüler doch überrascht."

Viele Nicht- Akademiker-Eltern hätten außerdem Probleme mit Fächern der Geisteswissenschaften wie Romanistik und Germanistik. "Die führen nicht zielgerichtet in einen bestimmten Beruf, und die Eltern verstehen nicht, was ihr Kind damit einmal werden möchte", sagt Küffner.

In solchen Fällen würden die Mentoren der Gruppen vor Ort den Schülern den Rücken stärken, ihnen Argumente an die Hand geben und helfen, eine Entscheidung zu treffen, zu der sie auch im Familien und Freundeskreis stehen können. Denn Rechtfertigungen, gerade wenn die Freunde eine Lehrstelle haben und Geld nach Hause bringen, seien oft schwer.

Schüler, die Hilfe suchen, können die Mentoren per Mail kontaktieren und ihnen ihre Fragen senden. "Dann meldet sich jemand aus der Gruppe vor Ort und kümmert sich — das kann von mehreren Mails über Telefonate bis hin zu einem persönlichen Treffen samt Campus-Besuch reichen", sagt Ulrike Voigt aus der Düsseldorfer Gruppe.

Selbstzweifel sind oft groß

"Aktuell treffe ich eine Schülerin, um ihr bei der Frage 'Ausbildung oder Studium' zu helfen. Oft hapert es an Selbstvertrauen — die jungen Menschen haben Selbstzweifel, oder ihre Familie traut ihnen ein Studium nicht zu. Da gilt es, Unsicherheiten zu nehmen."

Gleichzeitig gehen die Gruppen in Schulen und auf Berufswahlmessen und informieren über das System Hochschule und über die Finanzierung. "Wer Hilfe sucht, kann auch zum monatlichen Stammtisch kommen, die Termine finden sich direkt auf der 'Arbeiterkind.de'- Startseite."

Übrigens: Auch Azubis, die über ein anschließendes Studium nachdenken, Erstsemester, die auf Probleme stoßen, und Promovierende, die der erste Doktor in der Familie sein werden, bekommen Unterstützung.

(chk)
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