Wie beim Turmbau zu Babel Indien redet in 780 Zungen

Neu Delhi · Wenn heutzutage ein Turm zu Babel gebaut würde, könnte er in Indien stehen. Schon wer in der Hauptstadt Neu Delhi mit der U-Bahn fahre, höre bis zu 300 Sprachen, sagt Ganesh Devy. Der Gründer des Forschungs- und Publikationszentrums Bhasha stellte am Donnerstag eine Studie zur Sprachenvielfalt in dem Land mit etwa 1,2 Milliarden Einwohnern vor - die erste seit mehr als 100 Jahren.

Der indische Staat geht zurzeit von 122 Sprachen aus, doch wurden bei der Volkszählung 2001 nur diejenigen erfasst, die mindestens 10.000 Sprecher haben. Die neue Untersuchung erkennt auch Sprachen wie Majhi an, das nur noch vier Menschen beherrschen - und kam auf insgesamt 780 Sprachen.

Viele unerwartete Schätze kamen bei der Untersuchung, die nun sukzessive in 50 Bänden veröffentlicht wird, zum Vorschein. Etwa das Narsi-Farsi, mit dem Diebesbanden untereinander kommunizieren. Oder die geheime Code-Sprache Koti, die nur die transsexuellen Hijras kennen, und deren Beherrschung Aufnahmekriterium in ihre Gemeinschaft ist. Koti basiert zwar auf Hindi, das mit mehr als 400 Millionen die meisten Sprechenden in Indien hat, doch haben die Wörter eine ganz andere Bedeutung als sonst.

"Unsere Untersuchung zeigt auch, dass Indien 66 Schriften verwendet", sagt Devy. Für die Studie, die vier Jahre in Anspruch nahm, wurden mehr als 3000 Freiwillige eingebunden: Akademiker, Schriftsteller, Lehrer, Bauern, Aktivisten, Busfahrer und sogar Nomaden.

Das sei kein Zensus von Tür zu Tür gewesen, sondern die Menschen aus den Sprachgemeinschaften selbst seien für die Befragung geschult worden, erklärt Devy. Sie hätten Volkslieder, traditionelle Geschichten, Bezeichnungen für Angehörige sowie die Wörter für Zeit und Raum notiert - so sei die Weltsicht der Sprachgemeinschaft sichtbar geworden.

Minderheitensprachen sind bedroht

Kanajibhai Patel, Studienkoordinator für den Bundesstaat Gujarat, erklärt, die Sprachen der Minderheiten seien durch die Dominanz anderer Sprachen und Kulturen in der Region sowie die Globalisierung bedroht. Das passiere überall auf der Welt. "Die jungen Leute ziehen der Arbeit wegen in die Städte und verlieren dort den Bezug zu ihrer Sprache. Dort denken sie, sie werden ausgegrenzt, wenn sie ihre Muttersprache verwenden."

Doch es gebe auch den gegenläufigen Trend. Bhili etwa, die Sprache von Stammesvölkern im Westen Indiens, werde wegen wirtschaftlichen Erfolgs und wachsenden Selbstbewusstseins der Gruppen wieder mehr gesprochen.

Zu spät ist es allerdings für Bo, das auf den Andamanen-Inseln im Indischen Ozean gesprochen wurde. Der Dialekt habe vor drei Jahren zu existieren aufgehört, als der letzte Sprecher gestorben sei, sagt die dortige Studienleiterin Francis Neelam. "Zusammen mit der Sprache stirbt auch eine Kultur, Tradition, Geschichte und der Glauben der Menschen. Das kann nie mehr zurückgeholt werden."

Das gleiche Schicksal ereilte Bantu, eine afrikanische Sprache, in Indien. Die Portugiesen brachten Menschen aus Afrika vor 300 bis 500 Jahren als Sklaven nach Westindien. Die Siddi pflegten ihre Sprache zunächst, doch vor einigen Jahrzehnten war das vorbei.

"Wir haben das Gefühl, einen großen Teil unserer Identität verloren zu haben", sagt Farida Ben, eine Siddi. "Gäbe es die Sprache noch, wären wir mächtiger. Es würde unserer Gemeinschaft helfen, zusammenzufinden und uns zu verbrüdern."

(dpa)
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