Alarmsignale werden häufig übersehen Hunderttausende haben Schul-Horror

Frankfurt/Main (rpo). Für die I-Dötzchen ist Schule noch aufregend und unverbelastet. Studien zufolge ändert sich das: Vier bis zehn Prozent der 9,7 Millionen deutschen Schüler leiden ernsthaft unter Schulangst und brauchen dringend Hilfe.

Schon der Gedanke an die Trennung von den Eltern, an Klausuren und Lehrer lässt sie zittern, raubt ihnen den Schlaf und pocht als dumpfer Schmerz in Kopf und Magen. Eltern und Lehrer übersehen häufig die Alarmsignale und werden erst aktiv, wenn die Kinder den Besuch des Unterrichts verweigern. Je später aber die Hilfe kommt, desto eher können sich die Ängste zu schweren psychischen Störungen auswachsen, warnen Experten.

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie zählen Angststörungen zu den häufigsten seelischen Erkrankungen junger Menschen, die besonders geballt zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr auftreten. Nicht selten wird das Leiden von schweren Depressionen verstärkt, und nicht selten wird es zum dauerhaften Begleiter auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Umso wichtiger ist es, die Symptome frühzeitig zu erkennen.

In der Regel Selbsttherapie

Doch das ist gar nicht so einfach: Denn eigentlich gehört Angst zu den natürlichsten Empfindungen der Menschen - gerade bei Kindern und Jugendlichen, die sich besonders oft neuen Erfahrungen und Prüfungen gegenüber sehen. "Eine schlaflose Nacht vor einer wichtigen Klausur ist noch nicht alarmierend", betont daher Birgit Mauler, Leitende Psychologin der Christoph-Dornier-Klinik für Psychotherapie in Münster.

Rund 20 Prozent aller Schüler durchleben nach Angaben der Expertin irgendwann einmal solche Ängste, ohne dass sie deshalb einer Behandlung bedürfen: "In der Regel entspannt sich das von selbst wieder - wenn zum Beispiel Klausuren oder Referate überstanden sind." Ein Erfolgserlebnis in einer Angstsituation habe zudem einen Lerneffekt: An die nächste vergleichbare Situation werde dann meist schon viel gelassener herangegangen, sagt Mauler.

Aufhorchen sollten Eltern und Lehrer jedoch, wenn sich das Kind zurückzieht, über Kopf- und Bauchschmerzen klagt und immer wieder nach Möglichkeiten sucht, nicht zum Unterricht gehen zu müssen. Dann könnte tatsächlich eine tief sitzende Schulangst vorliegen: "Häufig ist es eine Angst vor Überforderung, vor Leistungen, die nicht erbracht werden können, aber auch vor Mobbing durch Klassenkameraden oder vor strengen Lehrern", sagt der Direktor der saarländischen Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Homburg, Alexander von Gontard.

Gute Heilungschancen

Solche Ängste können nach Angaben des Professors durchaus berechtigt sein, beispielsweise wenn die Schulform gar nicht dem Leistungsvermögen des Kindes entspricht. In diesen Fällen kann schon ein Wechsel etwa vom Gymnasium zur Realschule oder im Mobbingfall in eine andere Klasse helfen. Komplizierter verhält es sich dagegen mit der so genannten Schulphobie, die laut Gontard "eigentlich gar keine Angst vor der Schule, sondern eine Angst vor der Trennung von den Eltern ist". Oft kann sich diese Phobie über Jahre hinweg ungehindert entwickeln. Entdeckt wird sie meist erst, wenn das Kind gar nicht mehr zur Schule geht.

"In manchen Fällen ist diese emotionale Störung zum Zeitpunkt der Diagnose schon so fortgeschritten, dass der kleine Patient zunächst von der Familie getrennt und stationär behandelt werden muss", berichtet Gontard. In der Klinik beruhigen sich die Jungen und Mädchen nach seinen Erfahrungen meist sehr schnell: Im Kontakt mit anderen Kindern und ihren Therapeuten verlören sie ihre Ängste und lernten, auch ohne ihre Eltern zu bestehen. Auf diese Weise gelinge ihnen rasch die Rückkehr an die Schule. Für viele Väter und Mütter sei es dagegen wesentlich schmerzhafter, den Trennungsprozess zu verarbeiten.

Ursachen meist in der Familie

Familiäre Probleme stehen oft auch hinter einer dritten Form von Schulverweigerung, dem klassischen Schwänzen: "Diese Kinder, die unter einer Störung des Sozialverhaltens leiden und mit Regeln und Normen nicht umgehen können, kommen oft aus zerrüttetem Elternhaus mit Alkohol- oder Gewalterfahrung", berichtet der Professor. Hier ist daher meist auch ein Eingreifen von Sozialarbeitern oder Jugendamt erforderlich.

Doch egal ob Schulangst, Schulphobie oder klassische Schulverweigerung: Nach einer präzisen Diagnose lassen sich solche Störungen mit Hilfe von Gesprächs- und Verhaltenstherapien oder tiefenpsychologischen Maßnahmen fast immer dauerhaft beseitigen. Auf Medikamente muss nur in seltenen Fällen zurückgegriffen werden. Zwingende Voraussetzung für eine Heilung aber ist ein frühzeitiges Eingreifen von Eltern, Lehrern oder Schulpsychologen, wie Gontard betont: "Bleibt die Hilfe aus, werden sich die Ängste verfestigen und auch im Erwachsenenalter noch ihre Spuren ziehen."

(ap)
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