Gemeinsame Sprache lernen Die Herausforderung: Natur braucht Geist

Düsseldorf (RP). Die Zukunft von Philosophie und Co. könnte in den Labors liegen - als Korrektiv der Naturwissenschaften. Zuvor allerdings muss man eine gemeinsame Sprache sprechen lernen.

Man könnte mit den Augen von McKinsey auf die Geisteswissenschaften schauen. Es würde sich rasch herausstellen, dass da in den Fakultäten einiges verändert werden muss. Die Selbstbezüglichkeit etwa, die Beharrungskraft und vor allem das Gejammere über den eigenen Bedeutungsverlust. Bloß weg damit.

Es würde sich aber überdies erweisen, dass da einiges an Potenzial schlummert, an Zukunftsfähigkeit. Und so wäre die Prognose gut: Die Abschaffung der Geisteswissenschaften würde jedenfalls kein Unternehmensprüfer empfehlen. Statt dessen dieses: aufwachen, Leute; aufrappeln und in die Labors gehen, in die Kliniken und mitdenken, neu denken, überdenken. Die Geisteswissenschaftler werden nämlich gebraucht - in der Naturwissenschaft.

Berauscht von sich selbst

Das klingt erstmal ungewöhnlich. Die Naturwissenschaften sind derzeit derart berauscht von sich selbst und ihren Möglichkeiten und dem Zuspruch. Warum sollten sie die andere Kultur des wissenschaftlichen Arbeitens brauchen? Mit McKinsey gesprochen: zur Fortschrittsfolgen-Abschätzung.

"Ohne kritische Begleitung durch die Geisteswissenschaften wird naturwissenschaftliche Forschung in Zukunft nicht denkbar sein", sagt Elmar Weiler, Rektor der Ruhr-Universität Bochum. Die sechstgrößte Uni Deutschlands setzt auf die Vernetzung der scheinbar gegensätzlichen Disziplinen. In einem aktuellen geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereich etwa arbeiten auch Mediziner und Chemiker. "Es geht dabei um die Darstellbarkeit als Problem des Wissens", sagt Weiler.

Mit Hilfe der Geisteswissenschaftler versuchen Forscher, ihre Erkenntnisse zu visualisieren. "Die Bilder von der Welt sind immer Konstrukte des Geistes", sagt Weiler. Und so erarbeitet man in Bochum eben gemeinsam die Modelle, die der besseren Vorstellbarkeit des Fortschritts dienen. Der Job der Geisteswissenschaftler: komplexes Wissen transparent machen.

Philosoph an der Technischen Uni

Immer mehr Technische Universitäten, die ja qua Ausrichtung die Leuchttürme des naturwissenschaftlichen Arbeitens sind, beschäftigen neuerdings Geisteswissenschaftler. An der RWTH Aachen etwa forschen Soziologen über den Energieverbrauch der Zukunft und darüber, wie man heute mit den Energievorräten umgehen soll. "Wir haben kürzlich einen Philosophen berufen, der auch Neurowissenschaftler ist", sagt Weiler. Es geht auch dabei - wie gesagt: McKinsey - um Fortschrittsfolgen-Abschätzung.

Gerade in der Hirnforschung besteht ein enormer Bedarf an geisteswissenschaftlicher Begleitung. "Wir wissen immer mehr über die Funktion des Gehirns", sagt Achim Bachem, Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich. Ein Schwerpunkt der Jülicher ist die Gesundheitsforschung. Man arbeitet derzeit etwa an einem Hirnschrittmacher, der die Symptome der Parkinson-Krankheit minimieren soll - per elektrischem Impuls. "Bei diesen Forschungen kommen Fragen auf uns zu", sagt Bachem: "Wie ist es mit der Selbstbestimmung des Menschen? Was macht den eigenen Willen aus?" Anders gesagt: Wie weit darf man gehen?

Neurowissenschaftler sollten solche Fragen mit Philosophen klären, meint Bachem. Dazu müssten beide lernen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Das ist die Herausforderung, vor der die Geisteswissenschaft steht: das Erlernen anderer Denkweisen, anderer Sprachen. Aber da eben das zu ihren Kernkompetenzen gehört, muss niemandem bange werden.

Als Ansporn verstehen

"Der Sprung zwischen Philosophie und Medizin ist nicht größer als der zwischen Physik und Medizin", sagt Bachem. Das ist als Ansporn zu verstehen. Denn Physiker und Mediziner arbeiten längst zusammen. Also dürfte es Geisteswissenschaftlern ebenfalls gelingen, sich in Labors und Reaktoren zurechtzufinden.

Geisteswissenschaftler könnten dann mit soziologischen Verfahren klären, wie sich die Gesellschaft verändert, wenn die Lebenserwartung weiter steigt. Sie könnten mit den Erkenntnissen der Literaturwissenschaft die Wirkung von Gefühlen aufzeigen. Und sie könnten mit ethisch-moralischen Fragen euphorische Forscher-Interessen erden, auf Menschenwürde und Zumutbarkeit abklopfen: Wie gehe ich mit dem um, was ich in zehn Jahren entdecken werde? Der Geisteswissenschaftler bringt sein Wissen und seine Fähigkeiten ein, um Orientierung zu geben. Damit könnte er dereinst das Ideal des modernen Gelehrten verkörpern.

"Noch allerdings klappt die Zusammenarbeit nicht so gut", mahnt Bachem. Mit der gemeinsamen Sprache hake es noch allzu arg. So müsste der Rat von McKinsey erweitert werden: aufwachen, Leute; aufrappeln, die Sprache der Naturwissenschaftler lernen, in die Labors gehen, in die Kliniken und mitdenken, neu denken, überdenken.

Dann klappt das schon mit der Zukunft.

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