Wissenschaftler arbeiten an dem Latein-Wörterbuch der Welt Alle Latein-Spuren führen nach München

München (rpo). Alle Wörter gelangen nach München. Die einst ewige Stadt Rom bekommt Konkurrenz. Die Latein-Hauptstadt der Welt liegt in Deutschland: Es ist München.

Auch wenn sich zur Blütezeit des römischen Reichs noch lediglich Auerochs und Wildsau an den unbesiedelten Ufern der Isar tummelten, so wird doch seit nunmehr 110 Jahren das sprachliche Erbe der Römerzeit nirgendwo so hoch gehalten.

Seit 1894 arbeiten in München Generationen von Sprachforschern an einem umfassenden Lexikon aller antiken lateinischen Wörter, dem Thesaurus linguae Latinae. Dabei wird nicht nur die Bedeutung der Wörter beschrieben, natürlich in lateinischer Sprache, sondern auch noch jede Stelle aufgelistet, an der das Wort in einem antiken Text vorkommt - ein einzigartiges Nachschlagewerk.

Generalredaktor Hugo Beikircher ist der Chef des Mammut-Forschungsprojekts an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Schon seit 37 Jahren beschäftigt er sich in den prachtvollen Räumen der Münchner Residenz täglich mit dem Erfassen und Interpretieren lateinischer Schriften. Was für viele Schüler nach einer Strafarbeit aus dem Vorhof zur Hölle klingt, ist für Beikircher und seine Kollegen das reinste Vergnügen. Insgesamt 15 feste wissenschaftliche Mitarbeiter haben sich dieser weltweit einmaligen Tätigkeit verschrieben.

"Bei uns wird alles erfasst. Nicht nur Ovid und Augustinus, sondern auch ein Kochbuch oder ein Medizinratgeber zur Behandlung kranker Esel und sogar Klokritzeleien aus Pompeji", beschreibt der Geschäftsführende Sekretär Manfred Flieger den Ehrfurcht gebietenden Umfang des Mammutprojekts.

Bearbeitet werden Texte aus der Zeit der Anfänge des Lateinischen bis zum Jahr 600 nach Christus. Jedes Wort ist auf einer von zehn Millionen kleiner Karteikarten erfasst, die wiederum in Tausenden von Zettelkästen sortiert sind. Die Forscher vergleichen die verschiedenen Bedeutungen, in denen ein Wort benutzt wird, und verfassen darüber dann Lexikonartikel, die nach der alphabetischen Reihe jährlich in Einzelheften publiziert und nach Abschluss eines Buchstabens in Bände zusammengefasst werden, neuerdings auch auf CD.

An den ausnehmend zahlreichen Wörtern, die mit dem Buchstaben "P" beginnen, wird seit gut zwei Jahrzehnten gearbeitet. Insgesamt ist der Thesaurus zu rund Zweidritteln fertig. Als 1894 mit der Materialsammlung und 1900 mit der Publikation begonnen wurde, ging man von 20 Jahren bis zur Fertigstellung aus. Flieger nennt das eine für Unternehmen dieser Größenordnung geradezu typische Fehleinschätzung der Gründerzeit. Inzwischen hofft Projektleiter Beikircher, dass im Jahr 2050 der Thesaurus vollendet sein wird. Dies sei aber eine "ganz vorsichtige Schätzung", betont er.

Der Nutzen des Werkes ist für alle, die sich mit dem Altertum beschäftigen, unbestritten - vor allem für Philologen und Sprachwissenschaftler, aber auch für Archäologen, Historiker, Theologen und Juristen. "Rein wirtschaftlich ist der Thesaurus für die Katz. Ob die Menschen einsehen, dass dafür Steuergelder verwendet werden, ist Ansichtssache", räumt Flieger ein. Doch die Antike sei nun mal die Basis unserer Kultur und müsse deshalb erforscht werden: "Ob nun Horaz oder Mozart - man kann schon ohne sie leben, aber es wäre nicht schön."

Dass das Projekt seit 110 Jahren läuft, sieht Flieger als "ein kleines Wunder". Das Ende des deutschen Kaiserreichs, die Ausrufung der bayerischen Republik, zwei Weltkriege, einige schwere Wirtschaftskrisen und mehrere Umzüge haben die Zettelkästen unbeschadet überstanden. Die aktuellen Sparzwänge belasten die Forscher zwar auch, verursachen aber keine Existenzängste. Immerhin ist die Finanzierung durch das Akademienprogramm, das je zur Hälfte vom Bund und von den Ländern getragen wird, bis 2025 gesichert. 18 weitere Staaten unterstützen das Projekt: darunter sind die USA, Großbritannien, Finnland und sogar Japan.

Ins Internet wurde die Sammlung der Karteikarten bislang nicht gestellt. Angesichts der Materialfülle wäre die Digitalisierung der Daten zu teuer. Und so kommen Sprachwissenschaftler aus aller Welt in die bayerische Landeshauptstadt, um in der umfassendsten Latein-Bibliothek der Erde zu stöbern und zu forschen. Auch Projektleiter Beikircher ist kein gebürtiger Münchner. Aus Südtirol fand der 62-Jährige über Wien in sein berufliches Paradies. "Mir ist hier wirklich noch nie langweilig geworden", betont der Wissenschaftler. Ständig entdecke er Fehlübersetzungen und verfälschte Abschriften antiker Texte. Das sei "hoch spannend". Beikircher ist zufrieden mit seiner Arbeit, auch wenn er, rein biologisch begründet, kaum eine Chance haben dürfte, den Abschluss des Jahrhundertwerkes zu erleben.

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