Warum starb Pflegekind Chantal?

Der Fall der Elfjährigen, die am 16. Januar an der Ersatzdroge Methadon starb, gibt den Ermittlern Rätsel auf. Spuren auf der Suche nach Fehlern, die zu der Katastrophe geführt haben, deuten auf das Jugendamt. Vieles ist übersehen worden, seit das Mädchen 2008 in seine Pflegefamilie zog.

hamburg Die Nachricht vom Tod der elfjährigen Chantal hat deutschlandweit für Trauer und Empörung gesorgt. Wie jetzt bekannt wurde, waren die Pflegeeltern des Kindes seit Jahren drogenabhängig. Sie lagerten die Ersatzdroge Methadon zu Hause, mit der sich das Mädchen nach Obduktionsergebnissen vergiftet hat. Nachforschungen, wie Chantal in die Obhut der drogensüchtigen Pflegeeltern gelangen konnte, weisen immer mehr in Richtung des Jugendamtes.

Wie das Mädchen lebte, wurde nach Angaben des zuständigen Bezirksamtes regelmäßig überprüft: Zweimal jährlich kamen Jugendamtsmitarbeiter, Pflegeeltern, leibliche Eltern und Chantal zum "Hilfeplangespräch" zusammen. Sozialpädagogen hielten darüber hinaus den Kontakt zur Familie. Sie gehörten allerdings nicht zum Jugendamt des Bezirks. Weil ein Sozialpädagoge für maximal 35 Kinder zuständig sein soll, können Jugendämter die Betreuungsaufgabe an private Träger abgeben – etwa an den Verbund sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE). der die Elfjährige betreute. Der in die Kritik geratene Leiter des Bezirksamtes, Markus Schreiber (SPD), räumte Fehler ein: "Vielleicht wäre es besser, wenn das Jugendamt die Pflegeeltern prüft."

Als die Rettungskräfte am 16. Januar in den Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg eilten, bot die Wohnung der Familie ein schockierendes Bild: Schimmel im Kühlschrank, Wäsche lag auf dem Boden durcheinander. Überall in der verdreckten Wohnung lagen abgelaufene Medikamente. Die Retter alarmierten das Jugendamt. 32 Methadon-Tabletten fand die Polizei bei der Durchsuchung. Doch noch ist eine Schuld der Pflegeeltern nicht erwiesen. Ermittelt wird derzeit gegen das Paar, deren 27-jährige leibliche Tochter und Chantals leiblichen Vater wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung.

Dass die Pflegeeltern (47, 51) mit Drogen zu tun hatten, war in ihrem Umfeld offenbar kein Geheimnis: Nach Angaben der "Bild"-Zeitung meldete sich nun ein früherer Schulfreund der Pflegemutter zu Wort: Schon bei einer Klassenfahrt in den 80er Jahren habe er die Heroinsucht der damals 16-Jährigen erkannt. Nachbarn der Familie sagten dem Norddeutschen Rundfunk (NDR), die Drogensucht der Pflegeeltern sei im Viertel kein Geheimnis gewesen. Das Jugendamt, so glaubt ein Nachbar, habe sich bei den Kontrollbesuchen täuschen lassen.

So kann es auch gewesen sein, als Jugendamtsmitarbeiter Chantal zuletzt am 4. Januar besuchten. Das Mädchen, so die "Welt am Sonntag", habe ein verspätetes Weihnachtsgedicht vorgetragen. Das Verhältnis der Familie sei liebevoll, so die Betreuer, von Verwahrlosung kein Wort. Was in der Kleinen vorging, könnte jedoch ein Brief Chantals an ihren leiblichen Vater belegen, den die "Bild"-Zeitung veröffentlichte. Darin sprach sie von einer "schrecklichen Familie", wollte zu ihrem Vater zurück. Das Jugendamt habe dies jedoch abgelehnt.

Während Ermittler nach dem Ursprung der Katastrophe suchen, weisen sich die Beteiligten gegenseitig die Schuld zu. Die betreuende Einrichtung VSE sagte dem Abendblatt, nicht für die Eignungsprüfung der Familie zuständig gewesen zu sein. Ein Bezirksamtssprecher hielt dagegen: "Fakt ist, dass es einen Bericht vom September 2008 gibt, in dem der VSE die Eignung der Familie beschreibt."

Ihre Pflegeeltern hat Chantal 2008 selbst gewählt; mit deren leiblichen Kindern soll sie befreundet gewesen sein. Die wahren Verhältnisse blieben dabei unentdeckt: Der Vater, nach Abendblatt-Angaben wegen Drogenhandels und Raubes vorbestraft, musste lediglich ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Die Delikte tauchten darin angeblich aus Gründen der Resozialisierung nicht auf.

310 Pflegefamilien gibt es in dem Hamburger Bezirk – sie alle sollen nun geprüft werden. Mit der Gesundheitsbehörde will Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) zudem über Maßnahmen nachdenken: "Wenn es um die Auswahl von Pflegeeltern geht, dürfen Personen mit einer Drogenkarriere künftig keine Chance mehr haben, ein Pflegekind zu bekommen".

(RP)
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